Leo
hat eine Schublade. In der bewahrt er Gegenstände auf, die ihn
an das erinnern, was er vermisst. Oder an den, den er vermisst. Vor
dem Schlafengehen öffnet er oft diese Schublade und beschäftigt
sich mit diesen Gegenständen. Er nimmt sie in die Hand, schaut
sie an oder ordnet sie neu an. Es hilft dem inzwischen alt gewordenen
Mann, an das zu denken, was er liebte.
Leo ist Kunsthistoriker. Er lebt mit Frau und Kind in
New York, genauer im Künstlerviertel Soho. Sein Leben ist glücklich,
insbesondere weil er Bill kennen lernt, einen Künstler, der ihm
zum Freund wird. Auch Bill ist verheiratet und hat ein Kind, das genauso
alt ist wie Leos Sohn. Die beiden Familien leben im gleichen Haus, verbringen
die Ferien miteinander und sind füreinander da. Alles ganz schön,
alles ganz harmonisch. Bis ein tragischer Unfall dieses wunderbar aufgebaute
Glück zerstört und danach das Leben dieser beiden Familien
Stück für Stück auseinanderfällt.
Das Lesen eines schlimmen Schicksals macht mich als Leserin zuweilen
zwar betroffen, doch gibt es mir auch das Gefühl, dass es mir selbst
doch so viel besser geht - denn, was hat die Geschichte mit mir zu tun?
Bei Siri Hustvedt klappt das nicht. Der erste Teil des Romans, die glückliche
Zeit von Leo, seiner Familie und seinen Freunden, plätschert einfach
so dahin. Seitenlang passiert eigentlich nichts Spektakuläres.
Die Familien leben so vor sich hin und ich fragte mich beim Lesen, bleibt
das eigentlich so? (Ich wusste nichts von dem Unfall, denn ich hatte
den Klappentext nicht gelesen.) Obwohl diese Zeit plotmässig so
spannungslos war, langweilte ich mich aber nicht, sondern fühlte
mich wohl und nahm Anteil an diesem glücklichen Leben. Und gerade
deshalb habe ich dann auch im zweiten Teil des Romans, der dann ungleich
rasanter in der
Entwicklung ist, so gefesselt dieses Schicksal verfolgt. Was ist an
dieser Geschichte anders als an den oben erwähnten? Es hat mit
mir zu tun. Denn selten wurde mir mit einem Roman so klar gemacht, wie
schnell ein einziges Ereignis, alles im Leben umkehren kann - egal,
wie sehr man sich bemüht.
Neben dieser Geschichte über "das Leben" hat Hustvedt
auch einen Roman über New York, seinen Menschen und die dortige
Kunstszene geschrieben. Das ist schon interessant, allerdings geht sie
zuweilen bei der Beschreibung der Kunstwerke, die Bill fertigt, zu sehr
ins Detail. Die Entwicklung der Charaktere dagegen beschreibt sie sehr
präzise und damit gelingt es ihr auch, die Nähe zu ihnen herzustellen.
"Was ich liebte" ist Siri Hustvedts dritter Roman und sicher
ihr stärkster bisher. Allerdings war ich schon sehr begeistert
von ihrem ersten Buch "Die unsichtbare Frau". Es ist die Geschichte
einer psychisch labilen, jungen Frau und ihren diversen Geliebten. Permanent
hatte ich das Gefühl, gleich driftet dieseFrau komplett ab, doch
Hustvedt beschreibt diese Gratwanderung zwischen Wahnsinn und "Normalität"
perfekt.
Siri Hustvedt wurde 1955 in Northfield, Minnesota, geboren. Sie studierte
Literatur an der New Yorker Columbia University und promovierte mit
einer Arbeit über Charles Dickens. Sie lebt in Brooklyn und ist
mit dem Schriftsteller Paul Auster verheiratet, mit dem sie eine Tochter
hat.
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