DEZEMBER
2002

 
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LITERATUR


Johann Wolfgang Goethe: "Die Leiden des jungen Werthers"

Sondereinband von Patmos (2001)
Johann Wolfgang Goethe
"Die Leiden des jungen Werthers"

 

siehe auch:
Werther in China

"Was ich von der Geschichte des armen Werthers nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammlet, und leg es euch hier vor, und weis, daß ihr's mir danken werdet." Mit diesen Worten leitete Goethe 1774 sein Werk ein, welches einer ganzen Generation als "Trost aus seinem Leiden" dienen sollte. Doch auch heute, über 220 Jahre später, haben die tiefen Geständnisse des Werthers nichts an Faszination verloren. Zahlreiche Neuauflagen versuchen den Werther-Stoff zu ergründen, selbst das Internet bietet die Möglichkeit, sich die Briefe des schmachtenden Jünglings gemäß ihrer jeweiligen Datierungen zuschicken zu lassen. Ohne Zweifel zieht der Roman die heutigen Leser in seinen Bann.

Bemerkenswert ist die große Authentizität, durch die der Roman geprägt ist. Denn Goethe wusste, welch brisanten Stoff er verarbeitete, schrieb er doch 1815 an den Komponisten Carl Friedrich Zelter: "Dass alle Symptome dieser wunderlichen, so natürlichen als unnatürlichen Krankheit auch einmal mein Innerstes durchrast haben, daran lässt Werther wohl niemanden zweifeln. Ich weiß noch recht gut, was es mich damals für Anstrengungen kostete, den Wellen des Todes zu entkommen…" Dabei spielt Goethe auf seine unerfüllte Liebe zu Charlotte Buff an, die ihn wie den Werther in ein Dreiecksverhältnis mit ihr und ihrem Verlobten Johann Christian Kestner führte. Die offensichtlichen Parallelen zwischen Goethes Angebeteter und Werthers Lotte zeigen Goethes autobiographische Verarbeitung seiner Zeit in Wetzlar, in der er die Erfahrung dieser hoffnungslosen Liebe machte und die Gedanken über Weggang und Wiederkehr durchlebte. Doch auch ein weiteres Ereignis ist mit dieser Bekanntschaft tragisch verwoben und wird später in die Handlung miteinfließen: Karl Wilhelm Jerusalem, ein Gesandtschaftssekretär, erschießt sich auf Grund seiner unerwiderten Liebe zur Ehefrau des pfälzischen Legationssekretärs Frau Elisabeth Herd - die Pistolen sollten, wie es sich später im Roman widerspiegelt, von Kestner stammen. Dass der Freitod Jerusalems unmittelbar im Bezug zu dem Schicksal Werthers steht, zeigt die Tatsache, dass Goethe sich persönlich in Wetzlar über die näheren Umstände des Selbstmordes Kenntnis verschaffte. Diese Echtheit der Geschehnisse dürfte zu der Intensität des Romangeschehens beitragen, Goethe übernahm einige Passagen aus Kestners Benachrichtigung über Jerusalems Tod sogar wörtlich, und Werthers Ende sollte später mit Jerusalems übereinstimmen: "Kein Geistlicher hat ihn begleitet."

Die Rezeption des Romans gestaltete sich problematisch, denn nicht nur die Mode Werthers wurde von seinen Anhängern übernommen. Viele ließen sich von der Gefühlsintensität übermannen und wählten, sofern sie sich in derselben ausweglosen Situation sahen, den Freitod. Dementsprechend wurde Goethes Roman von Seiten der Kirche als sehr gefährlich eingestuft. War es das bürgerliche Publikum doch gewöhnt, aus einem Roman Wertvorstellungen für das eigene Leben zu finden ("prodesse et delectare"), so ließ der Werther seine Leser mit dem moralisch offenen Ausgang im Unklaren. Aus Angst vor der Verführung schwacher Seelen zum Selbstmord polemisierte die Kirche gegen das Werk. So wettert der berühmte Pastor Johann Melchior Goeze gegen die, nach seinem Urteil, "Narrheiten und Tollheiten" des jungen Werthers, welchen "eine närrische und verbotene Liebe, und eine daher entsprungene Desparation in den Entschlusse gebracht haben, sich die Pistole vor den Kopf zu setzen." Goeze fürchtet, dass die Jugendlichen dazu verleitet werden, "die Denkungsart des Werthers anzunehmen, in seine Fußstapfen zu treten, und wenn sie die unsinnigen Leidenschaften ihres Herzens nicht sättigen können, Hand an sich selbst zu legen." Folglich wurde das Werk in Leipzig, Bayern und Österreich auf den Index gesetzt.

Doch nicht nur der Inhalt fesselt, ist es doch auch die Form des Briefromans, die den Gedanken und Gefühlen Werthers Ausdruck bietet. Nur hier kann Werther seinen Empfindungen und Reflexionen nachgehen, und in sich selbst versinken: "Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt" (22. Mai). Dabei bietet die Aneinanderreihung der fragmentarischen Einträge auch hier ein hohes Maß an Authentizität; je weiter sich Werther in seine desolate Lage verstrickt, desto unfähiger wird er, die Geschehnisse zu erfassen, so dass sich der Herausgeber am Ende an den Leser wenden muss.

Letzterer erlebt die Briefe wie an sich gerichtet, da die Meinung des Antwortenden, Wilhelm, fehlt. Nur indirekt wird der Leser dessen Antworten gewahr, und es drängt sich die Frage auf, ob Wilhelm seinen Freund Werther hätte retten können. Denn dieser offenbart ihm ehrlich jegliche Empfindungen, erhält aber keine tiefgreifende Hilfe, sondern wird mit meist allgemeinen Ratschlägen versorgt ("Ich muß fort!ich danke Dir, Wilhelm, daß Du meinen wankenden Entschluß bestimmt hast.")

Die Briefform ist es auch, welche den sensiblen Geist Werthers offenbart. Sie allein erlaubt ihm die Momente des zögernden Herantastens ("O darf ich, kann ich den Himmel in diesen Worten aussprechen?- daß sie mich liebt") über die Momente des Sehnens ("Ach diese Lükke! Diese entsetzliche Lükke, die ich hier in meinem Busen fühle!ich denke oft!- Wenn du sie nur einmal, nur einmal an dieses Herz drücken könntest. All diese Lükke würde ausgefüllt seyn") bis hin zu Momenten der Verzweiflung ("Mit mir ist's aus- Ich trag all das nicht länger"). Kein anderes Medium unterstützt die geschaffene Gefühlsintensität wie der Brief, worin Werther offenbart: "Es ist meine ganze Seele, die ich dir vorlege."

Mit seinem Werther hat Goethe nicht nur ein zeitloses Werk geschaffen, sondern auch einen Roman, der zu jedem offenen Leser eine intensive Nähe erzeugt. Und so urteilt er selbst: "Es müsste schlimm sein, wenn nicht jeder einmal im Leben eine Epoche haben sollte, wo ihm der Werther käme, als wäre er bloß für ihn geschrieben. "

Der Paralleldruck der Reclam-Ausgabe eröffnet eine neue Leseperspektive: Die zweite Fassung von 1787 zeigt Goethes Umarbeitung des Stoffes und ist auch als Reaktion auf die damalige Rezeption zu sehen. Doch nicht nur um diese zu verstehen, ist die Lektüre der unverstellten Erstfassung von 1774, die ganz im Zeichen der Sturm-und-Drang-Zeit steht, äußerst empfehlenswert.

jd