APRIL
2002

 
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LITERATUR


Leipziger Allerlei: Szenen von einem Tag auf der Buchmesse


siehe auch:

www.mdk-arbat.ru
www.lietuva2002.lt
www.trikont.de
www.literareon.de
www.nadelspitze.de
www.literaturen.de

links das offizielle Logo der Leipziger Buchmesse

1. Akt

8.27 Uhr, Berlin Ostbahnhof, massenhaft Menschen, wenig Koffer, dafür viele Laptop-Behangene drängen in den morgendlichen ICE gen Sachsen. Die ganze Journalje strömt in den restlos überfüllten Speisewagen, wenigstens am Mitropa-Tresen gibt es noch einen letzten, beengten Stehplatz - die moderne Völkerschlacht. „Wat woll’n die alle in Leipzisch – kann doch eh keener mehr lesen, ham wa doch durch PISA jelernt, wa? Oder woll’n se alle Bilderbücher uff‘er Messe ankieken?“ ironisiert der freundlich dynamische Mitropa-Mitarbeiter beim Kaffeezapfen. Journalisten diskutieren, dass Bücher „unseren Wohnraum individualisieren“ und wälzen Messeprogramme. Der „CERYX-Quotenpädagoge“ ist schulfrei-glücklich und findet’s irgendwie cool unter Nicht-Seinesgleichen zu stehen.

2. Akt

11:11 Uhr, Leipzig-Messe, Bistro Halle 2, froh die Eingangsprozedur rasch – trotz vieler Schulklassen - überstanden zu haben, frisch bewaffnet mit dem Katalog Messen nach Maß, gestärkt durch ein pappiges Schinkenbrötchen, rast der Blick nun durch die Programmseiten... Wer? Was? Wo? Wann? ... Nur knapp 90 Minuten später fangen die Sinne angesichts der Reizüberflutung schon leicht zu schwinden, überall Literaturbeilagen großer Zeitungen, Hände wuseln um glanzvolle Werbehefte, Infos in Hülle und Fülle, da ein Blick auf die vorlesende Ingrid Noll, hier ein paar Harry Potter-Aufkleber für die Kleinen, dort Werbung für ein großes Moskauer Buchgeschäft mit über 30 Filialen. Besonders stechen gemeinsame Stände hervor, wie z.B. die der österreichischen oder russischen Verlagshäuser. Osteuropa bildet auch einen Schwerpunkt in Halle 3. Der ungarische Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels György Konrád warb am Tag zuvor schon in seiner Eröffnungsrede zur Buchmesse um „wechselseitiges Verstehen“ und „gegenseitige Achtung“ im neuen Europa. So ist Litauen auch Schwerpunktland der Frankfurter Buchmesse im Herbst 2002. Hören ist im Trend, vom Hörbuch bis zur Hörbibel ist alles im Angebot, selbst ein Hörtest zur Messung möglicher Hörverluste. Der Markt fürs auditive Literatur-Medium wächst... TV- und Radiosender bieten eigene Produktionen feil. Schön ist die Hörbar, in der man sich lauschend unter Kopfhörern mit einem Drink auf dem Sofa zurückziehen kann. Bei Trikont ist von skuriler Musik aus Vietnam bis zu alten Schellack-Raritäten vom Beginn des 20. Jahrhunderts allerlei im Angebot: Hamse mal ne Wurscht mit Senf... trällert es berlinerisch aus den „Goldenen Zwanzigern“.

3. Akt

13:00 Uhr. Nach all dem sinnesbetörenden Allerlei wird’s Zeit für konzentriertere Eindrücke. Erstes Lesungserlebnis bei Literareon, ein Verlag, der es sich zum Ziel macht, junge und bislang unbekannte Autoren zu fördern. Sacha Storz (geb. 1967), klinischer Psychologe aus München, beeindruckt mit einer kurzen Erzählung eines Haftinsassen, der alljährlich am Heiligabend dem Wahn verfällt. Mehr von ihm gibt es in den Anthologien des Verlages zu lesen. Uta Hauthal aus Sachsen rezitiert und singt mit viel Gestus aus ihrem Prosa- und Lyrik-Band „Ich wünscht‘ mir ein barockes Weib zu sein“. Ein barockes Weib „mit runden Backen, Riesenbrüsten / Dann könnt’ ich unbehelligt Frau nur sein / Ohn’ Schlankheits-, Schönheits-, Duftgelüsten“ trällert sie vergnügt. Zum guten Schluß werden die Verlagsprodukte verlosend unters Volk gebracht. Literareon veranstaltet unter dem Titel „Nadelspitze“ auch dieses Jahr wieder einen Literaturwettbewerb.


4. Akt

14:30 Uhr . Armin Müller-Stahls Gehirn läuft nur noch auf zwei Batterien, wie er sagt - mein Laptop-Akku verfügt auch nur noch über 75%. Armin Müller-Stahl glänzt wieder mit seiner menschlichen Wärme, die ihm in der Rolle des Thomas Mann trotz hoher Anerkennung auch Kritik (der Literat sei viel kühler gewesen, als Müller-Stahl ihn interpretiere). Er ist der Stargast dieses Donnerstags auf der Buchmesse. Als er im Berliner Zimmer ankommt, um sein Buch Rollenspiel vorzustellen, hat er bereits mehrfach auf der Messe gelesen und diskutiert. Er gibt einen witzigen „Schlagabtausch mit Helene Weigel“ um ein Bonbonpapier zum Besten. Es ist dieses spitzbübisch, menschlich Bescheidene, das ihn so liebenswert macht. Das Buch, in einem kleinen Potsdamer Verlag erschienen, sei schöner geworden als er selbst je vermutet hat. Müller-Stahl lobt die ästhetisch-liebevolle Buchgestaltung durch den Lektor. Auch diese Eigenwerbung kommt ganz bescheiden übers Podium. Mit eigenen Zeichnungen werden seine Texte, aber auch Gedanken, die er z.B. in der Rolle Thomas Manns für Breloers Fernsehfilm hatte, illustriert. „Schauspieler sind abhängige Kriechtiere“, resümiert Müller-Stahl. Beim Zeichnen und Schreiben dagegen kann er unabhängiger und frei sein. Er schwärmt von seiner Begegnung mit Elisabeth Mann Borgese, für die er am folgenden Tag posthum den Grimme-Preis entgegen nimmt. Er wird ihr eine Laudatio geigen – eine musikalische Anspielung auf den gemeinsamen Wunsch, einander mit Violine und Piano zu begleiten. Die Mann-Tochter nannte ihn während der Dreharbeiten zärtlich „Papale“, obwohl sie 12 Jahre älter als Müller-Stahl war, wie er amüsiert berichtet. Aus dem gemeinsamen Konzert ist nichts mehr geworden. Doch hofft Müller-Stahl, sie werde ihn, wo immer sie sei, hören und ihm sein diletantisches Geigenspiel verzeihen. Selbiges ist auch auf der Audio-CD zum Buch zu hören.

5. Akt

Später Nachmittag: nach Armin Müller-Stahl wirkt Peter Esterházy im Wiener Kaffeehaus blass mit seiner humoresken Schluß-Episode aus Harmonia Caelestis. Mich interessiert es nun nur wenig, was der Autor mit seinen Eltern einst in einem Budapester Restaurant erlebte und warum die Ungarn den Österreichern grollen. Der „CERYX-Mann“ ist trotz Wiener Melange müde vom Messerummel: Wieviel mag der Messegeist aufnehmen? Wer liest all die Bücher und deren Rezensionen?

Die neuen Erzählungen von Christa Wolf (Leibhaftig) und Günther Grass (Im Krebsgang) fehlen in keiner Berichterstattung zur Messe. Für ihr Lebenswerk hatte die Wolf am Vortage den Preis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels erhalten – erstmalig auch vom MDR in einer „oscar-ähnlichen“ Unterhaltungsshow mit viel Prominenz ausgestrahlt. Laudatio und Skulptur des Preises, ein Butt, stammten aus der Feder bzw. den Händen ihres kollegialen Freundes Grass. Zu Recht merkte Christa Wolf in ihrer Dankesrede an, dass Literatur auf so einer Messe zur Ware wird, aber der gesellschaftskritische Auftrag von Literatur sich nicht an Verkaufszahlen messen lasse.

Schafft die Buchmesse eine Gradwanderung zwischen Kunst, Gesellschaftsreflektion und Kommerz? Worauf sollen „wir uns“ im Zeitalter des Medienüberflusses konzentrieren? Wie stellt sich Literatur den Fragen einer globalisierten Welt? Gedanken, ob der Zeitgeist nach dem 11. September 2001 ein anderer sei, tauchen an verschiedensten Ständen und Kolumnen auf. Hatte Frau Löffler Recht, wenn sie schreibt, dass „Bücher, die man am Kriterium des 11. September scheitern lassen kann, (...) wohl schon vorher das Papier nicht wert“ waren (In: Literaturen 11/2001)? Was ist dieses Kriterium? Kann die Leipziger Buchmesse Antworten darauf geben?

Der sinnlich und sichtlich erschöpfte „CERYX-Mann“ hält sich an kostenlose Häppchen und Sekt bei den Tschechen – die wissen, wie Publikum einzufangen ist. Allerlei Gedanken perlen hervor... Doch der geistige Vorhang fällt und - wie hieß es immer am Ende des Literarischen Quartetts - viele Fragen bleiben offen.

um



Literaturhinweise

* Breloer, H./Königstein, H.: Die Manns. Ein Jahrhundertroman, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2001.
* Esterházy, P.: Harmonia Caelestis, Berlin Verlag, Berlin 2001.
* Hauthal, U.: Ich wünscht' mir ein barockes Weib zu sein. Gedichte und kurze Prosa 1987 - 2001, Literareon Verlag, München 2001.
* Grass, G.: Im Krebsgang. Eine Novelle, Steidl Verlag, Göttingen 2002.
* Wolf, C.: Leibhaftig, Luchterhand Literatur Verlag, München 2002.
* Müller-Stahl, A.: Rollenspiel, J. Strauss Verlag, Potsdam 2001.
* Noll, I.: Selige Witwen, Diogenes Verlag, 2001.