1. Akt
8.27 Uhr, Berlin Ostbahnhof, massenhaft Menschen, wenig Koffer, dafür
viele Laptop-Behangene drängen in den morgendlichen ICE gen Sachsen.
Die ganze Journalje strömt in den restlos überfüllten
Speisewagen, wenigstens am Mitropa-Tresen gibt es noch einen letzten,
beengten Stehplatz - die moderne Völkerschlacht. Wat wolln
die alle in Leipzisch kann doch eh keener mehr lesen, ham wa
doch durch PISA jelernt, wa? Oder wolln se alle Bilderbücher
uffer Messe ankieken? ironisiert der freundlich dynamische
Mitropa-Mitarbeiter beim Kaffeezapfen. Journalisten diskutieren, dass
Bücher unseren Wohnraum individualisieren und wälzen
Messeprogramme. Der CERYX-Quotenpädagoge ist schulfrei-glücklich
und findets irgendwie cool unter Nicht-Seinesgleichen zu stehen.
2. Akt
11:11 Uhr, Leipzig-Messe, Bistro Halle 2, froh die Eingangsprozedur
rasch trotz vieler Schulklassen - überstanden zu haben,
frisch bewaffnet mit dem Katalog Messen nach Maß, gestärkt
durch ein pappiges Schinkenbrötchen, rast der Blick nun durch die
Programmseiten... Wer? Was? Wo? Wann? ... Nur knapp 90 Minuten später
fangen die Sinne angesichts der Reizüberflutung schon leicht zu
schwinden, überall Literaturbeilagen großer Zeitungen, Hände
wuseln um glanzvolle Werbehefte, Infos in Hülle und Fülle,
da ein Blick auf die vorlesende Ingrid Noll, hier ein paar Harry Potter-Aufkleber
für die Kleinen, dort Werbung für ein großes Moskauer
Buchgeschäft mit über 30 Filialen. Besonders stechen gemeinsame
Stände hervor, wie z.B. die der österreichischen oder russischen
Verlagshäuser. Osteuropa bildet auch einen Schwerpunkt in Halle
3. Der ungarische Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels
György Konrád warb am Tag zuvor schon in seiner Eröffnungsrede
zur Buchmesse um wechselseitiges Verstehen und gegenseitige
Achtung im neuen Europa. So ist Litauen auch Schwerpunktland der
Frankfurter Buchmesse im Herbst 2002. Hören ist im Trend, vom Hörbuch
bis zur Hörbibel ist alles im Angebot, selbst ein Hörtest
zur Messung möglicher Hörverluste. Der Markt fürs auditive
Literatur-Medium wächst... TV- und Radiosender bieten eigene Produktionen
feil. Schön ist die Hörbar, in der man sich lauschend
unter Kopfhörern mit einem Drink auf dem Sofa zurückziehen
kann. Bei Trikont ist von skuriler Musik aus Vietnam bis zu alten
Schellack-Raritäten vom Beginn des 20. Jahrhunderts allerlei im
Angebot: Hamse mal ne Wurscht mit Senf... trällert es berlinerisch
aus den Goldenen Zwanzigern.
3. Akt
13:00 Uhr. Nach all dem sinnesbetörenden Allerlei wirds Zeit
für konzentriertere Eindrücke. Erstes Lesungserlebnis bei
Literareon, ein Verlag, der es sich zum Ziel macht, junge und
bislang unbekannte Autoren zu fördern. Sacha Storz (geb. 1967),
klinischer Psychologe aus München, beeindruckt mit einer kurzen
Erzählung eines Haftinsassen, der alljährlich am Heiligabend
dem Wahn verfällt. Mehr von ihm gibt es in den Anthologien des
Verlages zu lesen. Uta Hauthal aus Sachsen rezitiert und singt mit viel
Gestus aus ihrem Prosa- und Lyrik-Band Ich wünscht
mir ein barockes Weib zu sein. Ein barockes Weib mit runden
Backen, Riesenbrüsten / Dann könnt ich unbehelligt Frau
nur sein / Ohn Schlankheits-, Schönheits-, Duftgelüsten
trällert sie vergnügt. Zum guten Schluß werden die Verlagsprodukte
verlosend unters Volk gebracht. Literareon veranstaltet unter
dem Titel Nadelspitze auch dieses Jahr wieder einen Literaturwettbewerb.
4. Akt
14:30 Uhr . Armin Müller-Stahls Gehirn läuft nur noch auf
zwei Batterien, wie er sagt - mein Laptop-Akku verfügt auch nur
noch über 75%. Armin Müller-Stahl glänzt wieder mit seiner
menschlichen Wärme, die ihm in der Rolle des Thomas Mann trotz
hoher Anerkennung auch Kritik (der Literat sei viel kühler gewesen,
als Müller-Stahl ihn interpretiere). Er ist der Stargast dieses
Donnerstags auf der Buchmesse. Als er im Berliner Zimmer ankommt, um
sein Buch Rollenspiel vorzustellen, hat er bereits mehrfach auf der
Messe gelesen und diskutiert. Er gibt einen witzigen Schlagabtausch
mit Helene Weigel um ein Bonbonpapier zum Besten. Es ist dieses
spitzbübisch, menschlich Bescheidene, das ihn so liebenswert macht.
Das Buch, in einem kleinen Potsdamer Verlag erschienen, sei schöner
geworden als er selbst je vermutet hat. Müller-Stahl lobt die ästhetisch-liebevolle
Buchgestaltung durch den Lektor. Auch diese Eigenwerbung kommt ganz
bescheiden übers Podium. Mit eigenen Zeichnungen werden seine Texte,
aber auch Gedanken, die er z.B. in der Rolle Thomas Manns für Breloers
Fernsehfilm hatte, illustriert. Schauspieler sind abhängige
Kriechtiere, resümiert Müller-Stahl. Beim Zeichnen und
Schreiben dagegen kann er unabhängiger und frei sein. Er schwärmt
von seiner Begegnung mit Elisabeth Mann Borgese, für die er am
folgenden Tag posthum den Grimme-Preis entgegen nimmt. Er wird ihr eine
Laudatio geigen eine musikalische Anspielung auf den gemeinsamen
Wunsch, einander mit Violine und Piano zu begleiten. Die Mann-Tochter
nannte ihn während der Dreharbeiten zärtlich Papale,
obwohl sie 12 Jahre älter als Müller-Stahl war, wie er amüsiert
berichtet. Aus dem gemeinsamen Konzert ist nichts mehr geworden. Doch
hofft Müller-Stahl, sie werde ihn, wo immer sie sei, hören
und ihm sein diletantisches Geigenspiel verzeihen. Selbiges ist auch
auf der Audio-CD zum Buch zu hören.
5. Akt
Später Nachmittag: nach Armin Müller-Stahl wirkt Peter Esterházy
im Wiener Kaffeehaus blass mit seiner humoresken Schluß-Episode
aus Harmonia Caelestis. Mich interessiert es nun nur wenig, was der
Autor mit seinen Eltern einst in einem Budapester Restaurant erlebte
und warum die Ungarn den Österreichern grollen. Der CERYX-Mann
ist trotz Wiener Melange müde vom Messerummel: Wieviel mag der
Messegeist aufnehmen? Wer liest all die Bücher und deren Rezensionen?
Die neuen Erzählungen von Christa Wolf (Leibhaftig)
und Günther Grass (Im Krebsgang) fehlen in keiner Berichterstattung
zur Messe. Für ihr Lebenswerk hatte die Wolf am Vortage den Preis
des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels erhalten erstmalig
auch vom MDR in einer oscar-ähnlichen Unterhaltungsshow
mit viel Prominenz ausgestrahlt. Laudatio und Skulptur des Preises,
ein Butt, stammten aus der Feder bzw. den Händen ihres kollegialen
Freundes Grass. Zu Recht merkte Christa Wolf in ihrer Dankesrede an,
dass Literatur auf so einer Messe zur Ware wird, aber der gesellschaftskritische
Auftrag von Literatur sich nicht an Verkaufszahlen messen lasse.
Schafft die Buchmesse eine Gradwanderung zwischen Kunst, Gesellschaftsreflektion
und Kommerz? Worauf sollen wir uns im Zeitalter des Medienüberflusses
konzentrieren? Wie stellt sich Literatur den Fragen einer globalisierten
Welt? Gedanken, ob der Zeitgeist nach dem 11. September 2001 ein anderer
sei, tauchen an verschiedensten Ständen und Kolumnen auf. Hatte
Frau Löffler Recht, wenn sie schreibt, dass Bücher,
die man am Kriterium des 11. September scheitern lassen kann, (...)
wohl schon vorher das Papier nicht wert waren (In: Literaturen
11/2001)? Was ist dieses Kriterium? Kann die Leipziger Buchmesse Antworten
darauf geben?
Der sinnlich und sichtlich erschöpfte CERYX-Mann
hält sich an kostenlose Häppchen und Sekt bei den Tschechen
die wissen, wie Publikum einzufangen ist. Allerlei Gedanken perlen
hervor... Doch der geistige Vorhang fällt und - wie hieß
es immer am Ende des Literarischen Quartetts - viele Fragen bleiben
offen.
um
Literaturhinweise
* Breloer, H./Königstein, H.: Die Manns. Ein Jahrhundertroman,
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2001.
* Esterházy, P.: Harmonia Caelestis, Berlin Verlag, Berlin 2001.
* Hauthal, U.: Ich wünscht' mir ein barockes Weib zu sein. Gedichte
und kurze Prosa 1987 - 2001, Literareon Verlag, München 2001.
* Grass, G.: Im Krebsgang. Eine Novelle, Steidl Verlag, Göttingen
2002.
* Wolf, C.: Leibhaftig, Luchterhand Literatur Verlag, München 2002.
* Müller-Stahl, A.: Rollenspiel, J. Strauss Verlag, Potsdam 2001.
* Noll, I.: Selige Witwen, Diogenes Verlag, 2001.
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