JUNI
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2002
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Erfahrungssplitter:
Der Schriftsteller Wolfgang Borchert
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lesenswert: Peter Rühmkorf, Wolfgang Borchert, Rowohlt TB |
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Wolfgang Borcherts Geschichten sind Erfahrungssplitter, sei es seine bekannte Kurzgeschichte Schischyphusch über den lispelnden Onkel, seien es seine Kriegs- und Gefängnisgeschichten. Kein Wunder: Etwas anderes als Splitter bleibt ihm nicht. Wolfgang Borchert verbringt sein kurzes Leben an der Front, im Lazarett, im Gefängnis und im Krankenhaus. Wolfgang Borchert wird am 20. Mai 1921 in Hamburg geboren. Sein Vater ist Lehrer, seine Mutter Schriftstellerin. Wolfgang ist ein Kind ohne besondere Vorlieben oder Talente. Sein Schulabgangszeugnis Ende 1939 ist nicht berauschend. Er will Schauspieler werden, macht jedoch auf Wunsch der Eltern zunächst eine Buchhändlerausbildung. Daneben nimmt er privaten Schauspielunterricht. Borchert schreibt Gedichte, seit er 15 ist, und liest sie den Eltern vor. Der Vater korrigiert Satzbau, Grammatik und Rechtschreibung - niedere Wertkriterien in Borcherts Augen. Er erlebt den Schaffensprozeß als kurzen Rausch: "Der Einfall kommt, wird hingeschrieben und nicht mehr verändert." Mit 18 deutet nichts darauf hin, daß aus ihm ein erfolgreicher Schriftsteller werden könnte. Statt sich in Originalität zu üben, kopiert er seine Vorbilder Rilke und Hölderlin, sowie Benn, Trakl und Lichtenstein. Dennoch hält sich der junge Borchert für ein Genie und soll seiner Mutter an den Kopf geworfen haben: "Ihr werdet euch noch alle wundern. Hier kommt noch mal eine Plakette ans Haus." In das Frühjahr 1940 fällt seine erste Verliebtheit; er schreibt seiner Angebeten Briefe mit einer Unzahl von Ausrufezeichen und Gedankenstrichen. Das Liebesglück bleibt aus - wie auch im Rest seines Lebens. Im selben Jahr wird Borchert von der Gestapo verhaftet und verhört: Grund ist ein von ihm vorgetragenes Gedicht über Knabenliebe. Er gerät in den Verdacht der Homosexualität. Absurderweise stört sich die Gestapo an seiner in Briefen erwähnte "Rieke-Liebe" - in Wahrheit hatte Borchert nur von Rainer-Maria Rilke geschwärmt. Kurz darauf legt Borchert die Schauspielprüfung ab und beendet seine Lehre. Er wird vom Reisetheater der "Landesbühne Osthannover" in Lüneburg engagiert. Der Theaterkarriere wird jedoch ein jähes Ende bereitet, als er 1941 zu den Panzergrenadieren eingezogen wird. Nach einer Ausbildung zum Funker muß er Ende des Jahres an die Ostfront. Seinen ersten Kampfeinsatz hat er in Rußland - bei 30 bis 50 Grad unter null. Borchert wird seine Erfahrungen in grotesken Kriegsgeschichten wie Jesus macht nicht mehr mit verarbeiten. In dieser Geschichte muß sich der Protagonist in die ausgeschaufelten Gräber legen, um deren Proportionen auszumessen, bis er eines Tages "nicht mehr mitmachen will". Auch Borchert will nicht mehr mitmachen. Im Winter 1941/42 hat er erste Anfälle von Gelbsucht. Eines Tages meldet er sich mit einer Schußverletzung an der linken Hand: Er habe mit einem plötzlich auftauchenden sowjetischen Soldaten gerungen, bis sich ein Schuß aus dem eigenem Gewehr gelöst habe. Borchert wird ins Lazarett eingewiesen, bevor er im Mai verhaftet wird: Verdacht der Selbstverstümmelung. Er kommt ins Untersuchungsgefängnis Nürnberg und verbringt drei Monate in einer Einzelzelle. In dieser Zeit schreibt Borchert die Gefängnisgeschichte Die Hundeblume, mit der ihm später der Durchbruch gelingen wird. Sie handelt von einem Gefangenen, der sich bei der monotonen Hofrunde nach einer am Rand wachsenden Blume sehnt. Borcherts Situation ist alles andere als rosig: Er weiß, es geht um Freispruch oder Todesstrafe. Im Prozeß liegen als zusätzliches Belastungsmaterial Äußerungen von ihm gegen das Naziregime vor. Mit viel Glück wird Borchert vom Verdacht der Dersertion freigesprochen, bleibt aber aufgrund seiner Äußerungen in Untersuchungshaft. Die Strafe lautet schließlich auf vier Monate Gefängnis, die auf Antrag in sechs Wochen verschärfte Haft mit anschließender Frontbewährung umgewandelt werden. Als Borchert im Oktober 1942 seine Haftzeit verbüßt hat, wird er als Melder an die Front gezogen. Ende Dezember wird er mit erfrorenen Füßen ins Lazarett eingeliefert und kommt 1943 mit Fleckfieberverdacht ins Seuchenlazarett. Auch die Gelbsucht macht ihm zu schaffen. Schließlich soll er dienstuntauglich geschrieben und an ein Fronttheater abgestellt werden. Doch Borchert hat großes Pech: Einen Tag vor seiner Entlassung parodiert er Goebbels und wird denunziert. Er kommt in Untersuchungshaft nach Jena, dann nach Berlin. Folgenden Text soll Borchert wiedergeben haben. "Das deutsche Volk kann ruhig sein, Lügen haben kurze Beine, aber es ist meinem Orthopäden gelungen, mein rechtes Bein auf die normale Länge zu bringen; Volksgenossen und Volksgenossinnen, unsere Führung hat euch luftige und helle Wohnungen versprochen, wir haben unser Versprechen gehalten, die Wohnungen habt ihr jetzt; der deutsche Soldat wird kämpfen bis zur letzten Patrone, dann wird er das große Laufen kriegen. Ihr werdet erlauben, daß ich jetzt schon vorauslaufe, da ich am Gehen behindert bin." Im August 1944 wird Borchert wegen Zersetzung der Wehrkraft zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Fünf seiner neun Monate Untersuchungshaft werden ihm dabei angerechnet. Er bekommt jedoch Strafaufschub zwecks "Feindbewährung", muß also erneut an die Front. Anfang 1945 läßt sich seine Kompanie bei Frankfurt von Franzosen gefangen nehmen; einigen - darunter Borchert - gelingt die Flucht. Schwerkrank versucht sich Borchert nach Norden durchzuschlagen. Seine Haftvermerke gestatten ihm den Weiterzug durch die alliierten Linien. Mehr tot als lebendig erreicht er Hamburg. Trotz körperlichen Ruins besinnt sich Borchert seiner Schauspielambitionen: Er tritt als Komödiant auf, gründet ein Theater mit, arbeitet als Regieassistent. Schließlich wird er mit einer ruinierten Leber ins Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte geben ihn auf: Sein Tod ist nur noch eine Frage der Zeit; er wird entlassen. Borchert spielt für eine Weile gesund, so gut es geht, und wird langsam bekannt. 1946 wird Die Hundeblume publiziert. In nur acht Tagen schreibt er im Januar 1947 das großartige Stück Draußen vor der Tür, in dem es um die Heimkehr eines Kriegsgefangenen geht, der mit seinem Trauma in der Heimat nur auf Unverständnis, Hohn und Isolation trifft. Im Februar ist bereits die Rundfunkpremiere. Das Stück verhilft Borchert zum absoluten Durchbruch, ein Erfolg, der ihn selbst überrascht, da er das Stück für unaufführbar hielt. Auf einmal berühmt, wird er der vielen Besuche und Komplimente bald überdrüssig: Seine Gesundheit verschlechtert sich zusehenst, er ist ans Bett gefesselt. Nach vielen Schwierigkeiten und nur mit der Hilfe von Gönnern kann Borchert in ein Spital nach Basel gebracht werden. Doch er fühlt sich nicht wohl in der Schweiz. Am 21. November 1947 stirbt er im Baseler Spital mit nur 26 Jahren. Ein Tag darauf wird sein Drama Draußen vor der Tür uraufgeführt. aw |