FEBRUAR
2002

 
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KUNST

"Ich habe meinen Körper der Kunst gegeben" – die französische Künstlerin Orlan

Wir sind durch unsere christliche Kultur formatiert, die immer ein Element im Verhältnis zu einem anderen verteufeln muß: das Gute ODER das Böse, das Schöne ODER das Häßliche, das Reale ODER das Virtuelle; die Malerei ODER die neuen Technologien... Meine ganze Arbeit ruht in gewisser Weise auf dem UND.

Eine Frau mit zwei Wulsten auf der Stirn – eine Laune der Natur? Mitnichten. Es handelt sich um zwei Silikonimplantate, die sich die französische Künstlerin Orlan 1993 auf beide Seiten der Stirn setzen ließ – ganz freiwillig. Das Resultat nennt sich „Kunst“.

Tatsächlich war es nicht das erste Mal, daß sich Orlan für die Kunst operieren ließ. Als sie 1978 notoperiert werden mußte, nutzte sie die Gunst der Stunde, um sich dabei filmen zu lassen und das Material zu veröffentlichen. Damit begann eine lange Serie von Performances, bei denen Orlan die Schönheitschirurgie als ästhetisches Mittel einsetzt: Sie läßt sich operieren und zeigt das blutige Spektakel den Zuschauern auf der Großleinwand. Es geht ihr nicht darum, nach der Operation schöner auszusehen – nur anders. Sie erhebt ihren eigenen Körper zum Rohmaterial ihrer Kunst; sie selbst ist ihr Kunstwerk.

Orlan spielt mit ihrem Körper, formt ihn nach Modellen, die sie aus der Geschichte, der Kunstgeschichte oder der Mythologie nimmt. So interessiert sie sich für Schönheitsideale in verschiedenen Epochen und Regionen der Welt, zum Beispiel für die Schädeldeformationen bei den Mayas oder das Schielen. Was sie nicht operieren lassen kann, modelliert sie am Computer, indem sie ihr eigenes Portrait etwa mit dem Bild von alten Statuen verschmelzen läßt. Orlan begreift sich als multimediale Künstlerin, die neben dem Video auch Fotografie, Malerei und vor allem den Computer einsetzt.

Mit ihren „Selbst-Hybridationen“ stellt Orlan das Prinzip der Identität in Frage: Was bleibt, wenn man fremd im eigenen Körper ist? Indem sie ihren Wunsch nach Metamorphosen verteidigt, denkt sie im Grunde nur die alte feministische Parole „mein Körper gehört mir“ zu Ende. Sie will gegen das genetische Schicksal, gegen die erstarrte Rolle der Frau, gegen die Normen der Schönheitschirurgie rebellieren. Eine Schönheitsoperation droht bald ebenso normal zu werden wie der Gang zum Zahnarzt. Damit die Leute in Zukunft nicht alle gleich aussehen, will Orlan neue Schönheitskriterien außerhalb der Norm schaffen. Vielleicht werden die Beulen auf der Stirn ja noch zum Trend (hoffen wir’s nicht): Die moderne Chirurgie macht es möglich, daß auch der eigene Körper Opfer von Modeerscheinungen werden kann.

Orlans „art charnel“ (fleischliche Kunst) versteht sich auch als Kritik an der Kunstgeschichte und der zeitgenössischen Kunstszene. Orlan will die Kunst aus dem Kontext von Markt und Institutionen lösen – um sie in einen Operationssaal zu transportieren. Ob das eine Verbesserung ist, ist fragwürdig: Schönheitsoperationen sind etwas für Reiche. Und solche Operationen, wie Orlan sie vornehmen läßt, sind hoffentlich nur etwas für Orlan.

aw