JUNI
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2003
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Historienbilder
erzählen: Delacroix, "Die Freiheit führt das Volk auf
die Barrikaden"
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Eugène Delacroix (1789-1863)
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Das Gemälde "Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden" des französischen Künstlers Eugène Delacroix zeigt den 28. Juli 1830 - der Tag, an dem bewaffnete Bürger der Stadt Paris die Barrikaden der königlichen Armee stürmten, um gegen die Politik Karl X. zu protestieren. Nach dem Sturz Napoleons war in Frankreich das alte Königsgeschlecht der Bourbonen wieder an die Macht gekommen. Der absolutistisch denkende König Karl X. schränkte die konstitutionelle Verfassung immer weiter ein und gab Adel und Klerus gewisse Privilegien zurück, sehr zum Ärger des Volkes. Am 25. Juli 1830 erließ er vier Verordnungen, kraft derer die Pressefreiheit abgeschafft, die Abgeordnetenkammer aufgelöst und das Wahlrecht so geändert wurde, dass viele Kaufleute und Industrielle ihr Stimmrecht verloren. Die Stimmung in der Bevölkerung erreichte den Tiefpunkt. Als die Polizei einige Zeitungsreaktionen besetzte, die gegen die Politik Karls X. protestiert hatten, gipfelte die Empörung der Bürger in einem dreitägigen Barrikadenkampf vom 26. bis 28. Juli 1830. Karl X. musste schließlich ins Exil nach England flüchten. Sein Nachfolger wurde der liberale Herzog Louis-Philippe d'Orléans, der durch seine demonstrative Bescheidenheit als "Bürgerkönig" bekannt wurde. Obwohl sich das Prinzip der Volkssouveränität dank der Julirevolution durchgesetzt hatte, blieb der eigentliche Gewinner jedoch nicht das Volk, sondern die Großbourgeoisie. Nach dem Prinzip "Enrichissez-vous" gewann diese immer mehr wirtschaftliche und politische Macht, was schließlich zu einer erneuten Revolution im Februar 1848 führen sollte. Eugène Delacroix erlebte die Straßenkämpfe vor der eigenen Haustür. Er beschloss, sich dem Thema anzunehmen: Wenn er schon nicht für sein Vaterland gekämpft hatte, so wollte er wenigstens für es malen. Das Ergebnis ist ein Gemälde in düsteren Farben, in dessen Zentrum eine kräftige, halb entblößte junge Frau gerade die Barrikaden überschreitet. In der einen Hand hält sie die Trikolore, in der anderen ein Gewehr. Sie wird flankiert von einem pistoleschwingenden Jungen und einem Mann mit Gewehr und Zylinder - womöglich ein Selbstbildnis Delacroix'. Im Vordergrund türmen sich die Leichen. Ein Verwundeter streckt sich mit letzter Kraft zu der jungen Frau empor und bildet so zusammen mit dem Jungen ein kompositorisches Dreieck, an dessen Spitze die junge Frau steht. Von hinten drängen weitere Aufrührer heran; links im Hintergrund sind die Türme von Nôtre Dame zu erkennen. Die junge Frau verkörpert die Freiheit, welche das Volk über die Barrikaden und in den Kampf leitet. Einerseits ist sie eine Frau aus dem Volk - ihre Kleidung ist einfach, die Füße sind schmutzig - und andererseits eine Göttin, wie ihre Nacktheit, der sie gleich einer Aureole umgebende Rauch und ihr an eine antike Münze erinnerndes Profil nahe legen. Es ist eine ungewöhnliche Entscheidung, diese allegorische Figur als einfaches Weib inmitten des real blutigen Kampfgetümmels darzustellen. Heinrich Heine nennt die Freiheit "eine seltsame Mischung von Phyrne, Poissarde und Freiheitsgöttin". Obwohl sie in ihrer Fleischlichkeit greifbar wirkt, tritt sie in dem Bild doch nur als Idee auf: Niemand scheint sie wahrzunehmen, alle Figuren blicken an ihr vorbei - bis auf den Sterbenden zu ihren Füßen, der in seiner Agonie das Bild der Freiheit zu erblicken vermag. Die Freiheit ist dem irdischen Boden enthoben: Damit Gewand und Fahne derart im Wind flattern, müsste die junge Dame eine Geschwindigkeit erreichen, mit der sie unmöglich heil über Holzbarrikaden und Leichen gelangen könnte. Gleichzeitig ist ihr zurückgewandter Kopf gegenläufig zum Motiv der Vorwärtsbewegung, so dass die Figur in einem seltsamen Widerspruch erscheint. Die Freiheit blickt mit einem schwer deutbaren Ausdruck über ihre Schulter zurück, wohl um sich zu vergewissern, dass man ihr noch folgt. Tatsächlich halten die Männer links von ihr inne, so als hätten sie etwas erblickt, was sie zögern lässt. Der Junge rechts der Freiheit wird zuweilen als Bild der Jugend begriffen, für den die Revolution noch ein Spiel ist und der einerseits hinter der Freiheit bleibt, andererseits aber schon einen Schritt vor sie gesetzt hat. Durch die Diagonalen der Arme ist der Junge mit der Freiheit verbunden, bildet so ihren Schatten. Der Verwundete zu Füßen der Freiheit hingegen ist durch die Farben seiner Kleidung mit ihr verbunden. Die Farben der Trikolore werden auch an andern Stellen des Bildes wiederholt (etwa in der blauen Socke des Toten) und bilden so eine strukturierendes Motiv. Als das Gemälde im Pariser Salon von 1831 ausgestellt wurde, war die Reaktion überwiegend ablehnend. Die Kritiker nahmen es Delacroix übel, die Freiheit derart "unedel" und in so schlechter Gesellschaft dargestellt zu haben. Die Regierung kaufte das Bild für 3000 Francs und stellte es in der Galerie des Musée du Luxembourg aus, wo es jedoch nur bis 1832 hing. 1839 wurde es an Delacroix zurückgeben und 1855 noch einmal auf der Weltausstellung zugänglich gemacht. Erst nach dem Tod Delacroix' im Jahr 1863 wurde das Gemälde im Louvre aufgenommen. aw |