MAI
2002

 
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Renate im Mai
Alle zitierten Textstellen aus:
Renatika (in zwei Bänden)
Privatverlag D´Arbrette, Spandau 2001
© Kreatives Schreiben e.V. und bei den AutorInnen

1. Die Losung für diesen Monat steht im Franke Evangelium, im Kapitel 9, der Vers 20:

„Und die Tage des Stillstandes begannen, die Maulesel lahmten,
die Briefmarken klebten nicht mehr, die LKW-Fahrer streikten.“

Wer kennt das nicht? Diese vermaledeiten Tage, wo das Auto nicht anspringt, die Briefmarke nicht klebt und kein Klebstoff im Haus ist. Verlust an Mobilität! Äußerer und logistischer!

Gerade in dieser Zeit, die Mobilität in die Nähe einer Tugend rückt. Aber eine Tugend ist auch eine Verpflichtung und eine Verpflichtung ist eine Abhängigkeit. Wie sehr sind wir doch abhängig von ständiger Verfügbarkeit, Wandelbarkeit und eben Mobilität?

Festtage sind immer eine Gelegenheit, unserem Unbehagen im Alltag nachzuforschen. Die kommende Renaphanie werden wir alle dazu nutzen, jeder auf seine Art, Abstand zu unserem Alltag zu gewinnen und die Geselligkeit eines Festes eignet sich immer, sich darüber auch auszutauschen.

Nun ist aber gerade die Renaphanie immer wieder für viele das Fest eines moralischen Zeigefingers. Habe ich die Lastenzeit im Sinne Renatens genutzt? Sollte ich nicht in diesem Jahr für alle Lasten bereit stehen, und wenn sie auch vom undankbaren Nachbarn sind? Tun wir alle genug, um eine neue Zeit des Stillstandes zu verhindern?

Ich denke nicht, daß wir uns diese Fragen auf diese Art stellen sollten.

Natürlich ist Renates Tod eine Mahnung an uns. Denn was tun Renates Anhänger, als die Lakarier mit den atombetriebenen Elfendolchen Renate ergreifen: „Da sie aber mit atombetriebenen Elfendolchen bewaffnet waren und Renate mit den Worten 'Seid gut!' allen gewaltvollen Widerstand untersagte, versteckten sich alle hinter einem Baum.“ (EvFrank 8,28)

Und verstanden sie Renate richtig? „Seid gut!“, heißt das denn, sie sollen sich zurückziehen?

Wir wissen nicht, wie bedrohlich und übermächtig der Gegner war, aber ganz Berlin war voller Anhänger Renates. Hätten sie nicht gemeinsam...

Aber dieser Vorwurf ist nicht fruchtbar. Die Lakarier hatten Renates Tod gut geplant.

Und das Rad der Geschichte ließ sich noch nie zurückdrehen.

Wichtiger ist, daß ihnen Renate erschienen ist.

Das Franke Evangelium datiert den Beginn der Zeit des Stillstandes auf den Tod Renates und auch hier wird erzählt, wie sie ihren Anhängern erscheint. Diese Erscheinung veranlaßt den Berichtenden auch zu der Gewißheit: „daß Renate auch über ihren Tod hinaus den Menschen ihre Last nehmen könne.“ (EvFrank9, 23)

Und weil das so ist, brauchen wir keinen mahnenden Zeigefinger. Renate zeigt sich nicht, um zu ermahnen, sondern um die Trauer zu lindern.

Sie will uns zeigen, daß sie bei uns ist und bleibt. Der Tod kann ihr nichts anhaben, was sollten uns Autos, die nicht anspringen, und Briefmarken, die nicht kleben, in unserem Bestreben nach Lastenausgleich dann anhaben können?

Mobilität als Selbstzweck stellt keinen Wert dar. Und für den Lastenausgleich ist jede Aktion wertvoll, wenn wir dabei auch nicht immer unseren Ansprüchen gerecht werden können.

Eine frohe Renaphanie!

(Prof. Frank Sorge, Puppenlappen)

Hinweisschild wie in fast jeder renatistischen Versammlung zur Renatenacht.
Nach 23 Uhr darf in keiner Versammlung eine Last bewegt werden.

2. Unsere Welt wäre ohne Renate schwer und belastend

Vom 22. bis 26. Mai begehen auch in diesem Jahr Renatisten wieder das große Renaphanie-Fest. Aus diesem Anlaß hielt Ceryx folgendes Interview mit Dr. Waltraud Rebuh, Hyperversammlungsleiterin der Vereinigten poldeïschen Versammlungen Ostelbiëns.

Ceryx
Frau Hyperversammlungsleiterin, Renaphanie sind für die meisten erst einmal fünf freie Tage, die für einen Kurzurlaub genutzt werden. Ist der renatistische Sinn des Festes nicht längst auf der Strecke geblieben?

Waltraud Rebuh
Diese Haltung zum Renaphanie-Fest gibt es natürlich. Niemand kann das ernsthaft bestreiten. Als Renatistin muß ich sagen, das ist eine arenatistische Position. Aber im Ernst, wundern Sie sich darüber? Nach jahrzehntelanger bewußter Verdrängung des Renatismus in unserem Land ist nichts anderes zu erwarten.

Ceryx
Das klingt aber sehr resigniert.

Waltraud Rebuh
Mit Resignation hat dies nichts zu tun - im Gegenteil. Es kann hier ja nur darum gehen, die Situation ganz ohne Schuldzuweisungen richtig einzuschätzen. Und da trugen wir als Renatisten ja auch einen Gutteil dazu bei, daß es so gekommen ist.

Ceryx
Wie meinen Sie das?

Waltraud Rebuh
Gerade das gewaltsame Auftreten der sog. Constancischen Renatiker in den Jahren 2333 bis 2345 hat dem Renatismus im ganzen zutiefst geschadet. Zum einen war das Vertrauen in die lastenausgleichende Glaubwürdigkeit schwer erschüttert. Zum anderen setzte die neue Regierung gerade wegen dieser gemachten Erfahrung eine völlige Trennung von Staat und Renatismus durch. Dies hat für mich zu einer Art von Gewohnheitsarenatismus geführt. Ich kann nur jeden auffordern, sich mit der Geschichte des Renaphanie-Festes zu beschäftigen. Es ist eine Geschichte, die die Welt verändert hat.

Ceryx
Inwiefern?

Waltraud Rebuh
Renaphanie ist das Fest des Renatismus, an dem das Teilnehmen am Leiden Renates, die Erinnerung an ihren martialischen Tod, übergeht in die Freude der Renate-Erscheinung. Die Renaphanie-Geschichte dokumentiert, daß der Lastenausgleich doch stärker ist als der Stillstand. Aber auch, daß unsere eigenen Belastungen, unser Stillstehen den Weg in die Zukunft des Rundlaufens der Weltkugel nicht versperren. Renate steht auf der Seite des Lastenausgleichs.

Ceryx
Nach den Renatika ist Renate in der Werner-Eichenbrodt-Sternwarte im Berliner Plänterwald von den Lakariern zutode gefoltert worden. Daran gedenken wir in der Renatenacht. Danach erschien sie aber vielen, was wir am Renaphanie-Tag feiern. Viele Kritiker bezweifeln aber gerade das.

Waltraud Rebuh
Keiner bezweifelt heute noch ernsthaft, daß Renate gelebt hat, und daß ihre Geschichte einen ganz harten Kern hat.

Ceryx
Aber nicht nur die Erscheinung nach ihrem Tode widerspricht doch allen Logikgesetzen. Ebenso die Berichte, wonach Renate mit ihrem wundersamen Gefährt den Menschen schwerste, auch immaterielle Lasten genommen haben soll. Sind diese Erzählungen in den Renatika nicht eher nur Legenden, um einen Menschen in den Augen der Welt zu überhöhen?

Waltraud Rebuh
Es ist unzweifelhaft, daß Renate auf die Menschen ihrer Umgebung eine befreiende Wirkung hatte. Sie hat sie im wahrsten Sinne des Wortes entlastet. Und was wir in den Renatika lesen über die Entlastung Beladener, führt ganz bestimmt auf den Kern der Wirksamkeit Renates. Ob wir jetzt die Darstellungen in den Renatika Wort für Wort nachvollziehen können oder nicht, ist nicht das Entscheidende. Genauso ist es mit der Botschaft von der Erscheinung, daß Renate mit ihrem Tode nicht zum unwiderruflichen Ende des Lastenausgleichs gekommen ist.

Ceryx
Und trotzdem sagen viele: Was soll das Ganze heute noch?

Waltraud Rebuh
Man muß sich nur einmal einen Augenblick klar machen, wie unsere Wirklichkeit ohne die Erzählung von Renates Tun in Wiesbaden aussähe. Unsere Gesellschaft sähe bei allem vorhandenen Übel völlig anders aus, wenn es diese Kultur des Helfens, die Renate und ihre Anhänger vorgelebt haben, nicht gäbe. Unsere Welt wäre ohne Renate und die Geschichte ihres überwundenen Leidens schwer und belastend.

Ceryx
Am 28. August, dem Betty-Tag, feiern die Renatisten die Geburt Renates. In der Renatenacht gedenken sie ihres martialischen Todes und am 26. Mai der frohen Botschaft ihrer Erscheinung vor Susanne und den Zwergen.
Was weiß man eigentlich über diese Renate?

Waltraud Rebuh
Das genaue Geburtsjahr ist unbekannt. Der Grund hierfür liegt nicht nur in unsicherer Überlieferung durch die frühen Renatisten, sondern vor allem in Verschleierung von Tatsachen und bewußter Geschichtsfälschung von seiten der Neo-Lakarier zur Zeit des Stillstandes. Beispielsweise wurden alle Eintragungen des Puppenlappner Einwohnermeldeamtes, die über Renate Aufschluß geben könnten, bereits Anfang der 20er Jahre des 21. Jahrhunderts gelöscht.

Ziemlich sicher ist sich die renatikische Wissenschaft heute darin, daß Renate etwa Anfang vierzig war, als sie so martialisch hingerichtet wurde. Glaubhaft ist hierbei die Angabe, daß sie wegen des großen Festes nach Berlin gekommen war. Für das letzte Nußmann-Konzert ist der Abend des 24. 5. 2000 gesichert. Renate traf am Tag zuvor in der Hauptstadt ein. Da dies ein Montag war und es noch keinen Dienstag gab, ist als Zeitpunkt ihres Todes die Nacht vom 22. auf den 24. Mai festzumachen.

Dann kann man als Geburtsjahr etwa 1957 errechnen. Davon ausgehend können alle weiteren Etappen ihres Lebens erschlossen werden, wobei deren Exaktheit unsicher bleibt.

Ceryx
Am 28. August sind Jahr für Jahr die Versammlungen gefüllt. Wie ist das jetzt zum Renaphanie-Fest?

Waltraud Rebuh
Ich stelle von Jahr zu Jahr fest, daß auch die Renaphanie-Versammlungen immer besser besucht werden. Das gilt übrigens auch für die Versammlungen in der Renatenacht. Aber auch die Tradition, sich nach dem Gedenken an den martialischen Tod Renates wie damals Susanne für drei Tage in die Kanalisation zu begeben, wird immer stärker wieder aufgegriffen. Da es Glück verheißt, am 24. Mai diejenigen wiederzutreffen, die man am Nußmannfest im Supermarkt getroffen hatte, kommen immer mehr Menschen in der Kanalisation zusammen. In vielen Städten und Gemeinden gibt es bereits seit einigen Jahren zu dieser Zeit Tage der Offenen Tür in den Abwasserkanälen. Renaphanie ist ein Fest, an dem wir aus dem Aushalten von Dunkelheit und Trauer übergehen in das Licht des Lastenausgleichs. Das gibt Entlastung und Kraft. Ich freue mich, daß sich auch immer mehr junge Leute darauf einlassen.

Ceryx
Wir danken Ihnen für dieses Interview.

Waltraud Rebuh
Ich danke Ihnen, und wünsche allen Ceryx-Leserinnen und -Lesern eine schöne Renaphanie-Zeit. Renanata!

fs / bä

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