JULI
2005

 
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Psychiatrie auf dem Prüfstand

 

Mitte Juni hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dem Psychiatrieopfer der Siebziger Jahre, Vera Stein, Recht gegeben. Er fordert die Bundesrepublik Deutschland zur Zahlung einer Entschädigung von 75.000 Euro auf. Grundlage seiner Entscheidung ist die Tatsache, dass Vera Stein aufgrund einer Fehldiagnose zwei Jahre gegen ihren Willen in einer privaten Klinik in Bremen festgehalten worden war. Mit dem Urteil wird einerseits die Notwendigkeit staatlicher Kontrollen psychiatrischer Kliniken offensichtlich, andererseits gibt es antipsychiatrischen Einrichtungen in Deutschland Auftrieb.

Am 16. Juni 2005 erregte ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Aufsehen bei deutschen Juristen und Psychiatern. Der Gerichtshof hatte in seinem Urteil der Beschwerdeführerin Vera Stein Recht gegeben und die Bundesrepublik zur Zahlung einer Summe von 75.000 Euro Schadensersatz verpflichtet. Grundlage dafür war die Tatsache, dass Vera Stein in den Siebziger Jahren längere Zeit in diversen psychiatrischen Kliniken in Deutschland gegen ihren Willen festgehalten worden war, ohne dass der Staat dies verhinderte oder etwa einschritt, obgleich er mehrmals die Möglichkeit dazu hatte. Die Zwangseinweisung 1974 erfolgte zudem aufgrund einer Fehldiagnose, die da lautete "jugendliche Schizophrenie". Neueren psychiatrischen Gutachten zufolge gab es allerdings nie Anzeichen für eine Schizophrenie. Die Probleme der damals 14-jährigen Vera Stein, überwiegend familiäre Konflikte, waren lediglich auf eine Identitätskrise während der Pubertät zurückzuführen. Außerdem beklagt Stein die in den Einrichtungen zwangsweise verabreichten hohen Dosen an Psychopharmaka, die sie aufgrund ihrer Vorgeschichte gar nicht hätte bekommen dürfen. Folglich verließ Vera Stein die Klinik, in der sie zuletzt behandelt wurde "als seelisches und körperliches Wrack", so heißt es in einem Beitrag des Radio Bremen TV zur Urteilsverkündung.

Die Bedeutung des Urteils

Aus juristischer Perspektive ist das Urteil interessant, da es neuere Rechtsauffassungen bestärkt, nach denen der Staat nicht nur eigene Eingriffe in internationale Menschenrechte zu verantworten hat, sondern auch angehalten ist, Menschenrechtsverletzungen durch Dritte zu verhindern und zu ahnden. Auf der anderen Seite bekräftigt die Geschichte von Vera Stein die Argumente der sogenannten Antipsychiatriebewegung, die sich in den Fünfziger Jahren im Gegensatz zur konventionellen Psychiatrie entwickelte. "Das Schlimmste war das Eingesperrtsein und dass man denen völlig ausgeliefert war", kritisiert die Klägerin die Methoden der Psychiatrie gegenüber Radio Bremen TV. Heute kann in Zusammenhang mit der Antipsychiatrie wohl nicht mehr von einer einheitlichen Bewegung gesprochen werden. Sie manifestiert sich nämlich in höchst verschiedenartigen Ausprägungen, deren Gemeinsamkeit oft lediglich in der Kritik der konventionellen Psychiatrie besteht. Diese reicht je nach Strömung von der Infragestellung bestimmter Behandlungsformen und -maßnahmen über die Verneinung einer speziellen Ätiologie psychischer Erkrankungen bis hin zur klassischen Ablehnung der Existenz psychischer Störungen allgemein.

Die Entwicklung der Antipsychiatrie als Gesellschaftskritik

Vorreiter der Antipsychiatrie wie Thomas Szasz und David Cooper lehnten vor allem die Anerkennung der Schizophrenie als geistige Erkrankung ab. Einen ähnlichen Ansatz vertrat auch der französische Philosoph Michel Foucault. Untersuchungen zufolge war Schizophrenie zu jener Zeit in den USA nämlich öfter bei Angehörigen sozial benachteiligter Gesellschaftsgruppen, besonders bei Schwarzen diagnostiziert worden. Somit drängte sich die These der psychiatrischen Diagnose als Mittel der gesellschaftlichen Stigmatisierung auf. Anhänger der Antipsychiatrie glaubten deshalb, sie diene Teilen der Gesellschaft zur Sicherung von Herrschaft und Einkommen. Ähnliches suggeriert das Beispiel der Homosexualität, die lange Zeit als behandlungsbedürftige psychische Störung betrachtet wurde. Mit anderen Worten: das Bestehen geistiger Krankheiten wurde von der Antipsychiatrie zu Gunsten einer neuen Betrachtungsweise in Frage gestellt, welche die Definition psychischer Störungen als Erkrankung ablehnte und als von außen herbeigeführtes gesellschaftliches Phänomen erfasste. Unabhängig davon, ob man nun die soziale Bedingtheit psychiatrischer Diagnosen annimmt oder nicht, kann wohl unbestritten davon ausgegangen werden, dass gerade im Bereich des menschlichen Verhaltens und Denkens sowie der Wahrnehmung und der Affektivität Normalität eine anfechtbare Größe ist. Folglich ist es im Falle psychischer Störungen wesentlich schwieriger, eine treffende Diagnose zu stellen als bei körperlichen Erkrankungen. Die Gefahr einer falschen Behandlung ist dementsprechend größer.

Antipsychiatrie in der Praxis - die Villa Stöckle in Berlin

Alternative Einrichtungen zu den gängigen Psychiatriekliniken bestehen in Form der während der Siebziger und Achtziger Jahre in den Niederlanden entstandenen "Weglaufhäuser". Eines davon, die "Villa Stöckle", besteht seit 1996 in Berlin. Das Haus in Frohnau nimmt insbesondere Wohnungslose mit psychosozialen Schwierigkeiten auf. Ziel ist eine Wiedereingliederung der Menschen in die Gesellschaft. Dazu bieten die Mitarbeiter der "Villa Stöckle" umfassende Unterstützung bei der Bewältigung psychischer Krisen und leisten praktische Hilfe in Form von Sozialarbeit. Im Zentrum des Geschehens steht der Patient, an dessen eigene Stärken und Fähigkeiten zur Überwindung der Krise appelliert wird. Daher werden der konventionellen Psychiatrie zugeschriebene und als willkürlich und demütigend betrachtete Diagnosen und Krankheitsbilder abgelehnt. Gleiches gilt für Behandlungsmethoden wie Zwangsunterbringung auf geschlossenen Stationen, Zwangsbehandlungen, Fixierungen und Elektroschocks. Was die Medikation betrifft, so wird aufgrund der großen Nebenwirkungen bewusst ohne Neuroleptika und Antidepressiva behandelt bzw. eingehend über deren Folgen aufgeklärt. Der Patient wird von den Mitarbeitern des Weglaufhauses als eigenständiger und selbstbestimmter Mensch respektiert. Er allein entscheidet über seine Behandlung.

Da die Bewohner der Weglaufhäuser somit auch ihren Alltag individuell gestalten können, wird den Einrichtungen von Kritikern häufig ein Mangel an Struktur vorgeworfen. Feste Strukturen seien jedoch wichtig, damit die Menschen aus einer Krisensituation entkommen können. Dieser Einwand ist mit Sicherheit gerechtfertigt, weshalb es in der "Villa Stöckle" auch bestimmte Regeln sowie eine einwöchentliche Einwohnerversammlung gibt. Zentral ist und bleibt jedoch der Einzelne, mit seinen individuellen Wünschen und Bedürfnissen. Dahinter steckt der Gedanke, dass Menschen in Krisensituationen nur auf diese Weise ihr Selbstbewusstsein wiedererlangen und zu sich selbst zurückfinden können. Der Gedanke überzeugt, wenn man sich einmal vor Augen führt, dass Krisen häufig durch geringes Selbstbewusstsein und mangelnden Glauben an die eigene Person verstärkt werden. Es fällt also nicht schwer, nachzuvollziehen, dass aus antipsychiatrischer Perspektive Aufenthalte in "verregelten" Kliniken, in denen dem Patienten Behandlungsmethoden quasi aufgedrückt werden, kontraproduktiv erscheinen. Allerdings verfügen sicherlich nicht alle antipsychiatrische Einrichtungen über ein ähnlich durchdachtes und überzeugendes Konzept wie die "Villa Stöckle". Da auch Scientology sich als einer der größten Widersacher der Psychiatrie zeigt, ist durchaus Vorsicht geboten. Dennoch ist es wichtig, dass alternative Angebote in der Öffentlichkeit bekannt werden und jeder Einzelne zumindest die Wahl hat.

ma