NOVEMBER
2005

 
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Kurzbeinige Kunst: Die Lüge

 

 

Geschickt, hinterlistig, in guter Absicht, kunstvoll und alltäglich: Die Lüge hat nicht nur kurze Beine, sondern auch viele Gesichter. Vielleicht ist sie deshalb so faszinierend, gerade weil sie zwischen Gut und Böse schwebt und manchmal geradezu mit der Wahrheit verschwimmt, wie schon Goethe feststellte: "Die Wahrheit enthält immer auch Lüge".

Die Lüge, ein Faszinosum, das aber erst einmal entlarvt werden muss, beflügelt natürlich die Wissenschaft dazu, Methoden zu entwickeln, um dies zu tun: Einen wirklich funktionierenden Lügendetektor zu bauen, käme schon fast dem Gedankenlesen gleich und so erreichen die meisten Modelle mit einer Trefferquote von etwa 60 % bald ihre Grenzen. Sie arbeiten mit der Analyse der Atemfrequenz, des Hautwiderstandes, der Stimme, etc., können aber mit gewissem Training seitens des Lügners ausgetrickst werden bzw. springen auch auf bloße Nervosität hin an. Eine Methode allerdings, nämlich die Analyse von Gesichtsausdrücken, weist wohl jedoch höhere Trefferquoten (bis zu 80 %) auf, eventuell u. a. da sie ohne Wissen der Probanden durchgeführt werden kann. Auch die Hirnforschung interessiert sich insbesondere für notorische Lügner. Es wurde herausgefunden, dass Menschen, die dauernd lügen, mehr weiße Hirnmasse, die im Gegensatz zur informationsverarbeitenden grauen Hirnmasse zur Informationsvermittlung dient, besitzen als andere. Dies deutet außerdem darauf hin, dass die Lüge ebenfalls für die Kommunikationsforschung von Interesse ist. Hier handelt es sich v. a. um die Erkundung des alltäglichen Lügenverhaltens, das oft mit kommunikativen und sozialen Absichten in Verbindung steht: Höflichkeit oder Angst und Bequemlichkeit können hier eine Rolle spielen. Wer nicht lügt, kann ja in gewissen Situationen sogar durch Taktlosigkeit unangenehm auffallen. Aber auch für Religion, Philosophie, Politik und Soziologie stellt die Lüge ein interessantes Forschungsthema dar, das z. B. ein ganzes Forschungskolleg an der Universität Regensburg beschäftigt.

Die Lüge ist also ein komplexes Gebilde, das gar nicht so einfach zu meistern ist, wie man es vielleicht denken könnte: Man muss wissen, wann Lügen angebracht ist, wie man Lügengebäude aufrecht erhält und glaubhaft präsentiert. Dazu ist neben schauspielerischem Talent einiges an Phantasie und Kunstfertigkeit gefragt. Lügen ist also eine Kunst und die Kunst vielleicht eine Lüge, wie es z. B. Picasso sah: "Wir wissen nun, dass die Kunst nicht die Wahrheit ist. Die Kunst ist eine Lüge, die uns erlaubt, uns der Wahrheit zu nähern, zumindest der Wahrheit, die uns verständlich ist". So existiert in Kyritz an der Knatter (keine Lüge!) in Brandenburg ein wahrhaftiges Lügenmuseum, das auf eine Sammlung der elfjährigen Emma von Hohenbüssow, Urenkelin von Baron Münchhausen, aus dem Jahre 1884 im Schloß Gantikow zurückgeht, so zumindest die eine, vielleicht nicht ganz wahrheitsgemäße Version. Die andere besagt, dass der Künstler Rainar Zet Installationen und kuriose Sammelsurien, wie die "Psychedelia Maschinka", zur Schau stellt, und damit jährlich immerhin 6-10.000 Besucher anlockt. Anziehungskraft und Faszination fürs Publikum übte ja auch schon gerade erwähnter Baron Münchhausen mit seiner Kunst, Lügengeschichten zu erfinden, aus. Und das jüngste Publikum bewundert allsonntäglich Captain Blaubär in der Sendung mit der Maus, wie er sein Seemannsgarn spinnt.

Dass jedoch Lügen sehr ambivalent ist und nicht nur als geachtete Kunst betrachtet wird, bekommt eben jenes junge Publikum auch bereits in Geschichtenform vorgesetzt: Dem armen Pinocchio wächst fürs Lügen bekanntlich eine lange Nase, wobei hier interessant ist, dass quasi mit einem erfundenen und im kunstvollen Sinne erlogenen Märchen gegen die Lüge gesprochen wird. Diese Zweischneidigkeit zeigt sich immerfort: Während es in der Bibel heißt: "Du sollst nicht lügen", so erkennt Luther die Lüge nicht von vornherein als nur schlecht an: "Was wäre es, schon um Besseres und der christlichen Kirche willen eine gute, starke Lüge tun". Ebenso fordert der Aufklärer Voltaire geradezu zum Lügen auf: "Die Lüge ist eine sehr hohe Tugend, wenn sie Gutes tut. Man muss wie der Teufel lügen, nicht zaghaft, nicht zu Zeiten, sondern mutig und immer", währen einige seiner Philosophenkollegen der Antike oder auch Kant die Lüge als etwas sehr verwerfliches ansahen. So kann die Lüge in bestimmten Situationen durchaus relativiert und als positiv angesehen werden, in anderen aber als niederträchtig und unmoralisch erscheinen. Der Grad dazwischen ist schmal und macht vielleicht zum Teil den Reiz aus, den der verwegene Lügner spürt. Eine gewisse Verwegenheit wird auch auf dem Lügenbrückle beschworen, das angeblich beim Lügen einkrachen soll und in moderner Form (www.luege.de) in einer Art Sport um die gewagtesten Lügen kultiviert. Wahrheit und Lüge haben also kein einfaches Verhältnis. Richtig kompliziert und paradox wird es allerdings dann, wenn der Lügner behauptet, er lüge immer.

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