FEBRUAR
2004

 
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Auf den modernen indischen Rädern

Anant Kumar reiste im Januar 2004
durch Nord- und Westindien.

www.anant-kumar.de.vu

Drei Fragmente

1. Devendra Giri: Der Bahnpolizist im Autorikschafahrer

Krachend hält der Rikscha vor dem Max-Mueller-Bhawan (Goethe-Institut), Delhi, an:

>Ich möchte zum Neu Delhier Bahnhof. Wie viel würde es kosten?<
>Vierzig Rupien, Sir!<
>Zwanzig Rupien?<
>Sir, der Bahnhof ist doch weit von hier. Ich verlange von Ihnen nicht viel Geld.<
>Zwanzig Rupien?<
>Sir, sogar würde die Mindestgebühr samt Ihren drei Gepäckstücken dreißig Rupien betragen.<
>Gut, ich gebe 25. Lass uns fahren!<

Devendra Giri, mein Fahrer, ist ein Brahmane gehobener Klasse, und er hat:

>Sir, ich habe einen Hochschulabschluss! Sir, Sie würden es mir nicht glauben!<
>Doch! Doch! Ich glaube es Dir.<

Devendra Giri hat einen Hochschulabschluss in Wirtschaftswissenschaften. Er wollte für ein sicheres Gehalt einen Job bei der indischen Bahnpolizei. Mit Erfolg bestand er den Gesundheitstest. Dann kamen die Bestechungsgelder ins Spiel. Jeder Kandidat musste 50, 000 bis 70, 000 Rupien (1200 – 5000 US $) zahlen. Die Rekrutierung wurde jedoch in den darauffolgenden Monaten annulliert, nicht weil die Bestechungsaffäre aufgedeckt wurde. Die Bosse stritten sich pausen- und ergebnislos wegen des Kuchenanteils. Alle 1117 Kandidaten wurden entlassen, und inzwischen waren die Gelder gewaschen.

>So bin ich nach Neu Delhi gekommen. Wir klagten beim Gericht an, und der Prozess ging bis zum Obersten Gerichtshof. Wegen des Betruges haben wir den Fall in der letzten Instanz doch verloren.<

Im Gewühl der Menschen, Tierarten und Fahrzeuge drängelt der Rikscha in kürzeren Sprüngen durch. Devendra erzählt:

>Ich wollte bei meiner Familie nicht mehr als Bürde bleiben. So fahre ich jetzt Autorikscha.<
>Schickst Du Geld auch nach Hause?<
>Nein Sir, es bleibt kaum was übrig! Meine Frau wohnt auch hier in Delhi bei mir.<
>Aha! Und hast Du auch Kinder?<
>Noch nicht, Sir! Das erste Kind ist unterwegs.<
>Aha! Sehr schön! Und möchtest Du einen Sohn oder eine Tochter?<
>Egal, Sir! Auf jeden Fall wird es bei einem bleiben!<
>Sehr gut! Du bist ein sehr progressiver Mensch.<
>Sir, der Lebensunterhalt in Delhi ist so teuer, dass man sich selbst kaum ernähren kann.<
>Hm!<
>Ja Sir! Meine Frau hat auch studiert.<
>Schön! Geht sie auch arbeiten?<
>Nein, nein, Sir! So was ist unmöglich bei uns!<
>Ja?<
>Ja, Sir! Wir gehören zu Brahmanen höherer Klassen: Dwedis, Triwedis, ...<
>Ja?<
>Und es können vor dem Hause Millionen liegen. Aber die Frau wird nicht aus der Haustür treten.<

2. Die Schülerin des Philosophen Krishnamurti: Teachers are born, they are not made.

Suman Mishra, eine zierlich-hübsche Inderin, war hochgebildet - eine Akademikerin durch und durch. Die Pädagogin aus Leidenschaft und qua Ausbildung machte ihren Examensabschluss über den südindischen Philosophen Jiddu Krishnamurti. Jiddu Krishnamurti (1897-1986) wurde in den USA und in Europa über die Theosophin Annie Besant bekannt. Er predigte einen Seelenfrieden durch den Einklang von Universum und innerem Ich. Es gibt nicht viele Bücher von ihm. Seine Reden und Gespräche, u. a. über die Erziehung, gewannen eine beträchtliche Zuhöreranzahl in der ganzen Welt.

Suman war interessiert am deutschen Schulwesen. Da meine Nichte und mein Neffe in ihre Schule gingen, wurde sie mir über meinen Schwager vorgestellt. Es ergab sich ein reges Gespräch zwischen uns, und wir unterhielten uns heiter eine gute Stunde. Mir fiel es schwer, die Unterschiede aufzuzählen: Die Tatsache überraschte Suman sehr, dass die Schulen in Deutschland nicht weniger belastet seien, dass sich die Lehrer von den Schülern (und umgekehrt) gestresst fühlen. Zum Schluss fragte mich Suman:

>Würden Sie meiner Behauptung zustimmen: Teachers are born, they are not made.<
>Yes!<

Wie ihr Name besagt, kommt Suman Mishra auch wie Devendra Giri aus einer gehobenen Brahmanenfamilie. Nach dem sich Suman freundlich lächelnd verabschiedet hatte, erzählte mir mein Schwager eine indische Story über Sumans Familie. Suman habe zwei jüngere Brüder. Die beiden seien arbeitslos, auch weil sie im Studium Trottel und ungemein faul gewesen seien. Sie seien jedoch im richtigen Alter verheiratet und haben mehrere Kinder. Der Onkel hat eine der unzähligen Privatschulen gegründet. Und als Schuldirektorin kam die einzige hochgebildete unverheiratete Nichte in Frage.

>Wann werden die Eltern endlich Suman verheiraten? Oder wird sie vielleicht selbst heiraten?< fragte ich meinen Schwager verdutzt.

Der Schwager grinste eine Weile.

>Was meinen Sie?< fragte ich nochmals.

>Das würden sie nie tun!<

>O Gott! Warum? Sie wird von Tag zu Tag älter.<

>Ja, aber sie ist die einzige Geldquelle, auf die die ganze Familie angewiesen ist. Die Eltern und die Gebrüder würden schwer diesen fließenden Hahn zudrehen.<

3. Transzendenz in einem verspäteten Zug

Im Gegensatz zu den endlosen Disputationen legen die Inder bei ihren Gesprächen Wert auf Harmonie. Die Widersprüche vermeiden sie nicht, sondern die Konfrontationen. Nehmen wir mal an, zwei Reisende unterhalten sich über das Göttliche und das Irdische in einem indischen Zug, der schon eine siebenstündige Verspätung hat.

Einer ist ein wohlhabender Großhändler, der eine staatliche Einrichtung wegen des Millionenbetruges angeklagt hat. Er befindet sich auf der Rückfahrt nach der letzten Vernehmung im Obersten Gerichtshof in Neu Delhi. Der Bankier ist unterwegs, um die Jahresbilanz einer Bankfiliale im Westen Indiens zu prüfen.

>Glauben Sie an Atman?< fragt den Bankier der Großhändler.

>Ich glaube daran... Ich glaube an das Göttliche... Gerade in diesem Alter um 50 besinne ich mich mehr darauf.< antwortet der Bankier.

>Basierend auf Atman, gibt es im Hinduismus viele Glaubensrichtungen.< ... der Großhändler.

>Bis zum 25. Lebensjahr weiß einer kaum über sich selbst... Und in den nächsten 25 Jahren kümmert er sich bloß um seine eigenen Angelegenheiten (Frau, Kinder, Haus, ...). Bis zum 50. Lebensjahr sollte er jedoch zur Besinnung gekommen sein... Sonst ist es allzu sehr spät.< ... der Bankier.

>So wie mit dem Zuckerrohr. Zuckerrohr ohne Saft ist völlig nutzlos. Das gilt genauso für den menschlichen Körper.< ... der Händler.

>Ab 50 soll man sich auf jeden Fall mit dem Atman, dem Göttlichen, ... beschäftigen. Sonst wird es allzu sehr spät.< ... der Bankier.

>Wenn man aus dem Zuckerrohr seinen Saft herausgequetscht hat, ist er völlig nutzlos. Der menschliche Körper hat mehr Säfte in seinen Jugendjahren und somit auch mehr den Gebrauchswert... Mit dem Alter verliert er seine Säfte und damit seinen Wert... Und an einem saftlosen Körper würde sogar der höchste Gott kein Interesse haben!< schließt rhetorisch seinen Exkurs der gebildete Händler ab.

>So ist es! Dann wird es allzu sehr spät.< ... der Bankier.

Die Kasten im Umbruch:

Das Kastenwesen im postkolonialen Indien ist durchaus sehr strudelnd. Nicht wegen der Tatsache, dass die indische Verfassung jeder Religion und Kaste Gleichheit gewährt. Vielmehr agieren die Kasten sehr komplex je nach ihrer politischen Macht, die wiederum unmittelbar von Wirtschaftsbossen, Mafias und Gangstern unterstützt wird. Hinzu kommen ihr gesellschaftlichen Status (Geld, Ausbildung, Ansehen) und ihre regionale Über- bzw. Unterlegenheit. Es ist Gang und Gäbe, dass ein Brahmane, die oberste Priesterkaste, aus dem benachteiligten und berüchtigten Bundesland Bihar in der Metropole Delhi Rikscha fährt. Und die Gangs der Harijans, Jadavs, Mallahars, der unteren Kasten, strecken die Rajputs und Bhumijars, die höheren, en masse nieder. In Kürze: Alles ist schwierig und vielschichtig wie das Indien im Jahr 2004.

ak