DEZEMBER
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Anant
Kumar: Die Moscheen am Gangesufer
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Dieser Tage denke ich wie die meisten Europäer sehr oft an die
Muslime. Abgesehen davon, dass, im Gegensatz zu Mohammeds Schülern,
weder meine Ahnen noch die unzähligen Götter meines Landes
im Abendland jemals etwas zu suchen hatten. Andererseits sind jedoch
am Ufer des heiligen Ganges tausende Moscheen genauso beheimatet wie
die Und es kommt nicht selten vor, daß in jenem dicht bevölkerten Indus-Ganges-Tal ein Bruder anfängt, den anderen zu hassen, weil sich der andere anders anzieht. Oder einer einen anderen Gott anbetet oder eine andere Fleischsorte ißt. Nicht selten streiten sich die Geschwister. Gelegentlich auch bis aufs Blut. Beim Mord am 11. September dachte ich weniger wenn, dann am Rande - an die Muslime. Viel mehr an die skrupellosesten Terroristen, die sich beliebig aus Völkergruppen, Minderheiten, Nationen... rekrutieren können. Und als Mensch spürte ich grenzenlosen Hass gegen die Organisationen, Gruppen, Länder..., deren Bilder mir in den darauffolgenden Stunden wiederholt gezeigt wurden. Und allmählich wurde mir auch die große Gemeinsamkeit immer bewußter gemacht. Nämlich, daß sie alle Muslime sind. Ich wurde verzweifelter und verwirrter, und versuchte, meine Hilfestellungen in den Äußerungen meiner abendländischen Vorbilder (Dichter und Denker) zu finden. Mit großer Aufmerksamkeit las ich das Interview Es ist mir recht unheimlich geworden! mit dem Philosophen Gadamer, der die größten Kriege der Menschheit miterleben mußte. Seine Antwort auf die Frage um die Vernünftige Zukunft mit allen Religionen gab mir einen Halt, daß es mit allem geht, nur nicht mit der arabischen Religion. Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich vor Jahren in meiner Neu-Delhier Zeit mit meinem älteren Bruder ähnlich diskutiert, und wir nahmen als Referenz Bezug auf eine Meldung von India Today, Der Spiegel Indiens, die etwa so lautete: Weltweit hatten die Völker und Kulturen Ausschreitungen mit Muslimen. Egal, ob sie in einem Land wie in Indien als Minderheit oder in einem Staat wie in Indonesien als Mehrheit lebten. In meiner kleinostindischen Heimat Motihari, wo George Orwell die Welt erblickte und Gandhi 1917 seine Satyagrah(1) startete, leben die Muslimen als Minderheit. Und in meiner Kindheit und Jugend hatte ich als Hindujunge interessante Beziehungen zu ihnen. Sie waren meine unmittelbaren Schul- und Spielkameraden. Dann gab es alle paar Jahre Ausschreitungen zwischen Hindus und Muslimen, den gegensätzlichen Religionen der Inder. In den angespannten Tagen und Wochen wurden Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Die Eltern verboten den Kindern, an den Stadtteilen vorbeizustreifen, in denen die Moscheen standen. Es gab etwa wie die Kasseler Nordstadt ein kleines muslimisches Getto namens Agarwa.(2) In dem Viertel wohnte eine muslimische Großfamilie, mit der mein hinduistischer Vater verwandt war. Ja, verwandt ist der treffende Begriff, weil mein disziplinfanatischer Vater, der in seiner eigenen Familie Angst und Furcht erregte, als der beliebteste und großzügigste Onkel jener muslimischen Familie gesehen wurde. Und die Kinder jener Familie sagten uns, dass sie erst als Jugendliche erfuhren, dass mein Vater weder Muslime und noch ein blutverwandter Onkel war. Logisch, weil mein Vater lebenslang ein großer Liebhaber der islamisch-indischen Kultur blieb. Er sprach ein gehobenes Urdu(3), und in seinem Kleiderschrank befanden sich modische Sherwanis(4). Wir Kinder gehörten jedoch einerseits zu einem westlich angehauchten Zeitalter und zugleich zu dem modernen emporstrebenden Indien, als dessen Erzfeind Pakistan samt seinen Muslimen galt. Mich und meinen Bruder interessierten vor allem die Feste der Muslime, zumal wegen der süßen Leckereien. Meine Mutter kommt aus einer strengen hinduistischen Vegetarierfamilie, und zuhause darf man bis heute kein Fleisch essen. Wir, die beiden Brüder, hatten schon in unserer Jugend den Geschmack für das Fleisch entwickelt. Zu ihren Festen kochten die Muslime für ihre Hindu-Gäste und Nachbarn extra Ziegenfleisch, bei dessen Erinnerung gerade mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Ich kann mich noch des Tages erinnern, als wir in jenem Jahr auf dem Fest Eid-ul-Azha(5) jene Familie am Spätabend besuchten, und das Fleisch war bereits alles verzehrt. Wir haben zwar etwas zum Essen bekommen, aber kein Fleisch. Ich war sauer, und wir Brüder machten ein langes Gesicht. Das hat die Tante verstanden, und sie beorderte sofort ihre Töchter oder ihre Schwiegertochter, für uns das Fleisch frisch zu kochen. Ich wurde glücklich. Schon als Kind war ich Revoluzzer, und ich entfernte mich früh von meiner Familie. Ich besuchte die letzten Schuljahre tausende von Kilometern weit entfernt in Großstädten. Meine Familienvisite wurden in jener Zeit immer seltener wegen der angespannten Familienverhältnisse und wegen der hohen Bildungskonkurrenz im Milliardenland. Ähnliches galt für meinen älteren Bruder. Wir eiferten um die besten Noten und um die besten Zensuren, um in die Hierarchie der indischen Bourgeoisie aufsteigen zu können. In Neu-Delhi traf mein Bruder seinen Schulfreund Aquil Ahmad, einen Muslimen, wieder. Bei diesem Wiedersehen entwickelten sich beide zu Busenfreunden. Ein wichtiger Grund war, dass sich Aquil in der Urdu-Literatur spezialisierte. Und die Verse jener Dichtung gehörten zu den Mußestunden meines Mathematiker-Bruders, der jetzt als gemachter Mann in den Vereinigten Staaten lebt und arbeitet. Ich bekam die Intensität ihrer Freundschaft nur am Rande mit, weil ich als Streber in einer fremdsprachlichen Abteilung einer anderen Hochschule emsig studierte. Ich erfuhr auch im Laufe der Zeit, dass Aquil seinen Vater schon als Kind verloren hatte. Er nannte meinen Vater mal Onkel und mal wie wir Baba(6). In der letzten Zeit eher das letztere, als wir beiden Söhne zum Studieren in zwei verschiedene Länder auswanderten. 1993 arbeitete ich als Werkstudent im Volkswagenwerk Kassel, als gegen jedwede Erwartung die Nachricht eintraf, dass Baba auf dem Sterbebett lag. Ich nahm den nächsten Flug, und als ich im Schock in Neu-Delhi landete, organisierte Aquil, der Muslime-Freund, mein rasches Fortkommen zur ostindischen Stadt Patna. Ich konnte zwar Baba in seinen letzten Minuten nicht treffen, aber als Hindu-Sohn übergab ich seinen Leichnam dem Feuer am Gangesufer. Bei allen letzten aufwendigen Trauerzeremonien funktionierte Aquil Ahmad wie eine koordinierende Maschine. Was ist eigentlich Islam? Ich gebe zu, daß mich diese Frage bis heute eher marginal beschäftigte. Der Unterschied zwischen Sunniten und Shiiten ist mir egal, und ich kann mir das Jahr partout nicht merken, mit dem die mohammedanische Zeitrechnung beginnt. 620? 628?, schreibt mein Kollege Dirk Schümer am 30. September in der FAZ. Die gleichen Fragen gelten für mich. Aber mein Fall ist berechtigter, weil ich aus einem Land komme, wo die Religion selten in der Schule unterrichtet wird. Darüber hinaus habe ich als gebildeter Tiefgläubiger bloß einen Teil der zahlreichen, hinduistischen Veden, Upanishden und gigantischen Epen gelesen. Bei CNN sah ich auch eine muslimische Akademikerin mit ihrem Argument klagen, dass 1/3 der Weltbevölkerung aus Muslimen bestehe. Und solange sich die Welt nicht bemüht, die Muslime zu verstehen, bliebe eine friedliche Koexistenz eine Utopie. Die Hindus sind längst nicht 1/3 der Welt und die Buddhisten noch viel weniger. Ich versuche mir eine Weltkonstellation vorzustellen, wenn Millionen Kuhanbeter und ihre Milliardengötter die Tempelglocken in Europa ertönen ließen. Dann fällt es mir, einem in Europa ausgebildeten Schreiber, noch schwerer, diesen Aufsatz mit der Einsicht des weisen Europäers Gadamers zu beenden: Ich weiß es nicht. Ich halte zu unserer Welt, ich brauche dazu gar keine schriftliche Erklärung. Das ist wirklich sehr schwierig für einen Europäer zu verstehen, daß das für andere nicht so ist. Und als flüchtigen Trost lasse ich meine Gedanken zu den Moscheen am Gangesufer schweifen, zumal mich in meiner Wahlheimat, wie einige meiner abendländischen Kollegen, weder Moschee noch Islam beschäftigt. ak 1 Satyagrah: Der gewaltlose Widerstand für die Wahrheit |