JULI
2003

 
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viventura-Reisen

Chamula Cola: Ein wahres Märchen aus einem Dorf in Chiapas, Mexico

Die Kirche von Chamula


Reise-Spezial


Weitere Infos über Chiapas und die Maya-Kultur unter: http://www.nabolom.org

Endlich ist Chamula in Sicht. Viel hatte ich bereits in San Christobal über dieses Dorf in den Highlands erfahren. Nach all den skurrilen Geschichten bin ich froh, nun nicht allein hierher gekommen zu sein, sondern mich unter den „Begleitschutz“ einer Touristengruppe aus NA BOLOM – zugleich Maya-Kultur-Institut, Museum und Pension in San Christobal – mischen zu können. So bin ich diesmal nicht der einzige, der sich bei den Militärkontrollen in den Bergen des Chiapas von bis zu Zähnen bewaffneten Soldaten ausweisen muss. Die Kindergesichter dieser Uniformierten widersprechen ihrem extremen Waffenpotential. Wir dürfen passieren. Schliesslich hält unser VW vor dem Ort an und wir steigen beim alten Friedhof aus. Die Ruine einer verbrannten Dorfkirche ragt hinter dem Gelände hervor. Ziegen und Schafe grasen auf der Ruhestätte. Wir erfahren, dass die Kirche hier am Friedhof bereits vor vielen Jahrzehnten durch einen Blitz abgebrannt ist. Seitdem glauben die Menschen in Chamula, die Kirche sei von Geistern besetzt – niemand wagt es, das ausgebrannte Kirchenschiff zu betreten. Im heutigen Dorfkern steht die neue Dorfkirche, groß und weiß – Ziel unserer Expedition. Die Ziegen und Schafe scheint unser Kommen wenig zu beeindrucken. Eine Kindergruppe zeigt mehr Interesse und ruft: „Foto! Foto!“ Dabei strecken sie uns die kleinen, staubigen Hände entgegen – doch niemand gibt ihnen die gewünschten Pesos, geschweige denn traut sich ihrem Auftrag zu folgen. Der Friedhof ist von verschiedenfarbigen Holzkreuzen geprägt: schwarz, türkis und grün. Die Farben verraten, ob es sich bei den Verstorbenen um Männer, Frauen/Witwen oder Kinder handelt, ob sie verheiratet waren. Plastikblumen, die aus weißen Tüten und blauen Müllsäcken gebastelt wurden, baumeln an den Kreuzen. Der Hochland-Wind läßt die Blüten flattern. Echte Blumen gibt es hier nicht – der Schafe und Ziegen wegen. Die sind hier in Chamula heilig und grasen alles ab, was sie nur können. Geschlachtet werden dürfen sie angeblich auch nicht. Jahrelang waren die Friedhofsblumen beliebte Bunt-Nahrung für die wolligen Vierbeiner.

Vorbei an den kleinen Holzhütten mit dem fast schon obligatorischen Wellblechdächern wandern wir von diesem alten Friedhof ins Dorf hinab. Wir kommen vorbei an zwei großen Villen, Hacienden mit Satelitenschüssel und Doppelgarage. Hier wohnt die Dorfprominenz. Je näher wir dem Dorfkern kommen, desto belebter sind die staubigen Straßen. Händler ziehen durch die Gassen und preisen ihre Webarbeiten in leuchtenden Farben. Wir erfahren, dass es durch die Unterstützung der mexikanischen Regierung für dieses autonome Dorf seit 10 Jahren eine Schule gibt. Aber erst seit 5 Jahren besuchen die ersten Kinder in Chamula zaghaft den Unterricht.

Der große Zocalo beherbergt einen ärmlichen Markt. Viele Stände bestehen nur aus zwei kleinen Apfelsinenkisten, in denen wenig Obst und ein paar Gemüsearten zu finden sind. Die Kirche ist nicht groß, aber prägt den Platz.

Wir bekommen Anweisungen, wie wir uns in diesem Gotteshaus zu verhalten haben. Keine Fotos! Die Gläubigen nicht stören! – eine Selbstverständlichkeit denke ich. Nicht selbstverständlich ist, dass dieses Tzotzil-Dorf vor fast 40 Jahren seinen katholischen Priester vertrieben hat. Nun herrscht hier auch katholische Autonomie. Zwar verstehen sich die Dorfbewohner als Katholiken, doch viele alten Maya-Riten haben wieder Platz im Kirchenhaus gefunden. Wir betreten das leuchtend weisse Gebäude durch das große grün-türkise Portal. Meine Augen müssen sich zunächst an das gedämpfte Licht im Inneren gewöhnen. Wärme schlägt uns entgegen – ein Leuchten. Der Boden ist ein Meer aus Kerzen, Mit der Vertreibung des Priesters haben die Dorfbewohner auch die Kirchebänke vertrieben. Verfeuert? Einzig der Haupt-Altar und die Heiligen-Figuren mit ihren kleinen Altären sind noch vorhanden, an die Wände gedrängt. Trotz der fehlenden Bestuhlung wirkt das Kirchenschiff voll. Der Boden ist übersäet mit Tannennadeln, zwischen denen Kerzen stecken. Tausend scheinen es zu sein. Vor den Kerzen hocken Gruppen von Menschen in Tzotzil-Trachten auf dem Boden, in Unterhaltung, in Gebeten. Jede Gruppe, jede Familie scharrt sich um einige der Kerzen. Der Geruch von Wachs durchdringt die Luft. Der Ruß der Kerzen hat die Holzdecke von unten schon deutlich geschwärzt. Doch ein Detail scheint nicht recht ins Bild zu passen.

Um die Andacht haltenden Menschengruppen stehen Gefäße, die nicht der Maya-Welt entspringen. Formschön und durchsichtig, die klasssische Variante mit rotem Logo: Coca-Cola. Munter trinken die Betenden das braune Erfrischungsgetränk, halten es zuweilen bedeutungsvoll in die Höhe. Ein Mann, der vor mir auf dem Boden kauert, rülpst lautstark. Fast scheint sich sein Echo endlos im Kirchenschiff zu wiederholen. Macht das alles Sinn?

NA BOLOM ist um eine Erklärung nicht verlegen. Es hat einen Sinn. Coca-Cola ist die spirituelle Droge Chamulas. Cola trinken fördert das Rülpsen und Rülpsen hilft, die bösen Geister wieder aus dem Körper zu vertreiben. Mit jedem Rülps entweicht das Böse. Ähnlichen Voodoo praktiziert eine Frau vor uns – sie wählt eine andere Methode. Sie hält ein flatterndes Huhn auf ihrer Brust und beschwört es eindringlich mit alten Tzotzil-Gesängen. Die Frauen, die im Halbkreis um sie herum sitzen, summen leisen mit. Das Huhn flattert wild, gar nicht froh, an den Beinen gefesselt zu sein. Ich erfahre, dass dieses Ritual auch ihren Körper reinigt. Ihre böse Geister entweichen aus ihrem Körper und nehmen das hilflose Geflügel als neue Heimstätte in Besitz. All diesem Zauber kann sich das flatternde Wesen nicht entziehen. Der Gesang wird kurz dramatischer. Das Huhn bäumt sich ein letztes Mal auf und verschwindet in einer Plastiktüte. Um seinen Erstickungstod zu beschleunigen, dreht die Betende dem Vogel mitsamt der Tüte noch rasch den Hals um. Die Ausbuchtung des Plastik verrät – der Vogel läßt nun die Flügel hängen. Die Frauengruppe scheint erleichtert. Fort die Geister, tot das Huhn. Sie lächeln sich mild an, reichen sich die Cola-Flasche, trinken. Sie wirken wie Bauarbeiter, die sich nach der schweren Schicht erstmal ein Bier einflößen müssen. Nur das Zu-Prosten scheint zu fehlen. Ich fühle mich sprachlos und fasziniert zugleich.

Woher kommt dieser spirituelle Cola-Konsum? Die Erklärung ist leicht, verblüfft in ihrer Tragik. Zwar hat das Dorf keinen Priester mehr – doch in alter Maya-Tradition werden immer Schamanen gewählt, die als spirituelles Oberhaupt gelten. Vor Jahrzehnten hat ein Schamane einen alten Maya-Ritus der Neuzeit angepaßt und erklärt: „Trinkt Cola, die bösen Geister müssen heraus aus euren Körpern!“ Dass dafür auch keine Hühner ihr Leben lassen müssen, überzeugte schnell. Der Drang zum Rülpsen stellt sich bei jedem Konsumenten schnell ein, wenn er nur hastig genug trinkt. Der Verkaufserfolg des amerikanischen Erfrischungsgetränks war vorprogrammiert. Cola-Trinken ist nicht nur hip, sondern auch spirituell. Das eigentliche Trauerspiel dabei ist, besagter Schamane gehört zu der Familie auf der Hacienda. Das ist die Cola-Familie. Seine Angehörigen haben als einzige in Chamula die Verkaufsrechte für das entgeisternde Getränk. Die sind die neuen Großunternehmen, sie sind der Boss.

Als vor Jahren ein neuer Schamane gewählt wurde, erkannte eine andere pfiffige Tzotzil-Familie die Gunst der Stunde. Ihr Schamane bestätigte den neuen Glauben, aber überzeugte, dass auch Pepsi-Cola diese reinigende Wirkung habe. Schließlich hatte seine Familie just die Lizenzrechte für Pepsi-Cola erworben. Seither bekriegen sich die Cola- und die Pepsi-Familie in dem Dorf um ihre Kunden. Rote und blauen Werbeflächen zieren viele Hauswände in Chamula. Den Kirchgängern kann es egal sein, ob die Geister wegen Coca-Cola oder Pepsi-Cola fliehen. Sie trinken sich glücklich was das Zeug hält!

Ob die französische Touristengruppe, die nach uns in die Kirche eindringt und einige Kerzen niedertrampelt von einem der Cola-Konzerne gesponsert wird, bleibt offen. Ich beschließe zum Lunch weder Cola noch ein bocadillo con pollo, ein Hühner-Sandwich, zu bestellen. Bin ich schon von allen guten Geistern verlassen?

Aber wenn beide Schamanenfamilien noch nicht gestorben sind, verkaufen sie weiterhin Cola an die Gläubigen in Chamula, sitzen in ihren Luxus-Villen, schauen Satelliten-TV und sind glücklich und zufrieden... Na denn, Prost!

um